Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

der sinnlich. Kenntn. u. d. vernünftigen.
Empfindung habe. Dennoch sehe ich den Thurm grö-
ßer, als meinen Finger, mit dem ich sonsten ihn leicht
ganz vor meinen Augen bedecken kann.

Die gewöhnlichen Erklärungen, die man von diesen
sichtlichen Scheinarten giebet, nach welchen sie Wirkun-
gen einer schlußartigen Verknüpfung von Jdeen seyn
sollen, gestehe ich, gefallen mir nicht. Die Jdeenasso-
ciation ist allerdings mit ein Spiel und hindert hier, wie
bey andern Empfindungen bekannter Gegenstände, nur
zu oft die Aufmerksamkeit, das, was wirklich eine Em-
pfindung ist, von dem, was wir hinzudenken, zu unter-
scheiden. Aber das bey Seite gesetzet, was sie unter
besondern Unständen vermag, so deucht mich doch, man
habe ihr in dem erwähnten Fällen zu viel beygeleget.
Unser sinnliches Urtheil darf hier nicht nothwendig auf-
hören, ein unmittelbares Urtheil und eine reine Beob-
achtung zu seyn. Es ist wirklich das letztere, wenn nur
dasjenige, dessen wir uns als gegenwärtig in der Jm-
pression von dem Objekte klar und deutlich bewußt sind,
mit der Sorgfalt bemerket wird, die ein scharfer Beob-
achter in seiner Gewalt hat. Jch will meine Erklärung
darüber hersetzen. Da aber eine solche Deduktion, wor-
inn alle Behauptungen durch die nöthigen Beobachtun-
gen beleget würden, hier viel zu weitläuftig seyn würde,
so begnüge ich mich, diese Gedanken nur wie eine Hypo-
these ansehen zu lassen.

Zuvörderst muß man wohl die Fälle unterscheiden,
wo wir mit Sorgfalt auf den sinnlichen Eindruck acht
haben, und die, wo dieß nicht geschicht. Das letztere
ist das gewöhnlichste. Bey unsern individuellen Em-
pfindungen beachten wir selten das Besondere und Eige-
ne, wenn wir mit bekannten Objekten zu thun haben,
die wir nur im Ganzen unterscheiden und greifen wollen.
Der sichtliche Schein der Dinge, die um mich in mei-
ner Stube sind, ändert sich ab, je nachdem das Licht sie

ändert,

der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen.
Empfindung habe. Dennoch ſehe ich den Thurm groͤ-
ßer, als meinen Finger, mit dem ich ſonſten ihn leicht
ganz vor meinen Augen bedecken kann.

Die gewoͤhnlichen Erklaͤrungen, die man von dieſen
ſichtlichen Scheinarten giebet, nach welchen ſie Wirkun-
gen einer ſchlußartigen Verknuͤpfung von Jdeen ſeyn
ſollen, geſtehe ich, gefallen mir nicht. Die Jdeenaſſo-
ciation iſt allerdings mit ein Spiel und hindert hier, wie
bey andern Empfindungen bekannter Gegenſtaͤnde, nur
zu oft die Aufmerkſamkeit, das, was wirklich eine Em-
pfindung iſt, von dem, was wir hinzudenken, zu unter-
ſcheiden. Aber das bey Seite geſetzet, was ſie unter
beſondern Unſtaͤnden vermag, ſo deucht mich doch, man
habe ihr in dem erwaͤhnten Faͤllen zu viel beygeleget.
Unſer ſinnliches Urtheil darf hier nicht nothwendig auf-
hoͤren, ein unmittelbares Urtheil und eine reine Beob-
achtung zu ſeyn. Es iſt wirklich das letztere, wenn nur
dasjenige, deſſen wir uns als gegenwaͤrtig in der Jm-
preſſion von dem Objekte klar und deutlich bewußt ſind,
mit der Sorgfalt bemerket wird, die ein ſcharfer Beob-
achter in ſeiner Gewalt hat. Jch will meine Erklaͤrung
daruͤber herſetzen. Da aber eine ſolche Deduktion, wor-
inn alle Behauptungen durch die noͤthigen Beobachtun-
gen beleget wuͤrden, hier viel zu weitlaͤuftig ſeyn wuͤrde,
ſo begnuͤge ich mich, dieſe Gedanken nur wie eine Hypo-
theſe anſehen zu laſſen.

Zuvoͤrderſt muß man wohl die Faͤlle unterſcheiden,
wo wir mit Sorgfalt auf den ſinnlichen Eindruck acht
haben, und die, wo dieß nicht geſchicht. Das letztere
iſt das gewoͤhnlichſte. Bey unſern individuellen Em-
pfindungen beachten wir ſelten das Beſondere und Eige-
ne, wenn wir mit bekannten Objekten zu thun haben,
die wir nur im Ganzen unterſcheiden und greifen wollen.
Der ſichtliche Schein der Dinge, die um mich in mei-
ner Stube ſind, aͤndert ſich ab, je nachdem das Licht ſie

aͤndert,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0503" n="443"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der &#x017F;innlich. Kenntn. u. d. vernu&#x0364;nftigen.</hi></fw><lb/>
Empfindung habe. Dennoch <hi rendition="#fr">&#x017F;ehe</hi> ich den Thurm gro&#x0364;-<lb/>
ßer, als meinen Finger, mit dem ich &#x017F;on&#x017F;ten ihn leicht<lb/>
ganz vor meinen Augen bedecken kann.</p><lb/>
            <p>Die gewo&#x0364;hnlichen Erkla&#x0364;rungen, die man von die&#x017F;en<lb/>
&#x017F;ichtlichen Scheinarten giebet, nach welchen &#x017F;ie Wirkun-<lb/>
gen einer &#x017F;chlußartigen Verknu&#x0364;pfung von Jdeen &#x017F;eyn<lb/>
&#x017F;ollen, ge&#x017F;tehe ich, gefallen mir nicht. Die Jdeena&#x017F;&#x017F;o-<lb/>
ciation i&#x017F;t allerdings mit ein Spiel und hindert hier, wie<lb/>
bey andern Empfindungen bekannter Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde, nur<lb/>
zu oft die Aufmerk&#x017F;amkeit, das, was wirklich eine Em-<lb/>
pfindung i&#x017F;t, von dem, was wir hinzudenken, zu unter-<lb/>
&#x017F;cheiden. Aber das bey Seite ge&#x017F;etzet, was &#x017F;ie unter<lb/>
be&#x017F;ondern Un&#x017F;ta&#x0364;nden vermag, &#x017F;o deucht mich doch, man<lb/>
habe ihr in dem erwa&#x0364;hnten Fa&#x0364;llen zu viel beygeleget.<lb/>
Un&#x017F;er &#x017F;innliches Urtheil darf hier nicht nothwendig auf-<lb/>
ho&#x0364;ren, ein <hi rendition="#fr">unmittelbares</hi> Urtheil und eine <hi rendition="#fr">reine</hi> Beob-<lb/>
achtung zu &#x017F;eyn. Es i&#x017F;t wirklich das letztere, wenn nur<lb/>
dasjenige, de&#x017F;&#x017F;en wir uns als gegenwa&#x0364;rtig in der Jm-<lb/>
pre&#x017F;&#x017F;ion von dem Objekte klar und deutlich bewußt &#x017F;ind,<lb/>
mit der Sorgfalt bemerket wird, die ein &#x017F;charfer Beob-<lb/>
achter in &#x017F;einer Gewalt hat. Jch will meine Erkla&#x0364;rung<lb/>
daru&#x0364;ber her&#x017F;etzen. Da aber eine &#x017F;olche Deduktion, wor-<lb/>
inn alle Behauptungen durch die no&#x0364;thigen Beobachtun-<lb/>
gen beleget wu&#x0364;rden, hier viel zu weitla&#x0364;uftig &#x017F;eyn wu&#x0364;rde,<lb/>
&#x017F;o begnu&#x0364;ge ich mich, die&#x017F;e Gedanken nur wie eine Hypo-<lb/>
the&#x017F;e an&#x017F;ehen zu la&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
            <p>Zuvo&#x0364;rder&#x017F;t muß man wohl die Fa&#x0364;lle unter&#x017F;cheiden,<lb/>
wo wir mit Sorgfalt auf den &#x017F;innlichen Eindruck acht<lb/>
haben, und die, wo dieß nicht ge&#x017F;chicht. Das letztere<lb/>
i&#x017F;t das gewo&#x0364;hnlich&#x017F;te. Bey un&#x017F;ern individuellen Em-<lb/>
pfindungen beachten wir &#x017F;elten das Be&#x017F;ondere und Eige-<lb/>
ne, wenn wir mit bekannten Objekten zu thun haben,<lb/>
die wir nur im Ganzen unter&#x017F;cheiden und greifen wollen.<lb/>
Der &#x017F;ichtliche Schein der Dinge, die um mich in mei-<lb/>
ner Stube &#x017F;ind, a&#x0364;ndert &#x017F;ich ab, je nachdem das Licht &#x017F;ie<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">a&#x0364;ndert,</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[443/0503] der ſinnlich. Kenntn. u. d. vernuͤnftigen. Empfindung habe. Dennoch ſehe ich den Thurm groͤ- ßer, als meinen Finger, mit dem ich ſonſten ihn leicht ganz vor meinen Augen bedecken kann. Die gewoͤhnlichen Erklaͤrungen, die man von dieſen ſichtlichen Scheinarten giebet, nach welchen ſie Wirkun- gen einer ſchlußartigen Verknuͤpfung von Jdeen ſeyn ſollen, geſtehe ich, gefallen mir nicht. Die Jdeenaſſo- ciation iſt allerdings mit ein Spiel und hindert hier, wie bey andern Empfindungen bekannter Gegenſtaͤnde, nur zu oft die Aufmerkſamkeit, das, was wirklich eine Em- pfindung iſt, von dem, was wir hinzudenken, zu unter- ſcheiden. Aber das bey Seite geſetzet, was ſie unter beſondern Unſtaͤnden vermag, ſo deucht mich doch, man habe ihr in dem erwaͤhnten Faͤllen zu viel beygeleget. Unſer ſinnliches Urtheil darf hier nicht nothwendig auf- hoͤren, ein unmittelbares Urtheil und eine reine Beob- achtung zu ſeyn. Es iſt wirklich das letztere, wenn nur dasjenige, deſſen wir uns als gegenwaͤrtig in der Jm- preſſion von dem Objekte klar und deutlich bewußt ſind, mit der Sorgfalt bemerket wird, die ein ſcharfer Beob- achter in ſeiner Gewalt hat. Jch will meine Erklaͤrung daruͤber herſetzen. Da aber eine ſolche Deduktion, wor- inn alle Behauptungen durch die noͤthigen Beobachtun- gen beleget wuͤrden, hier viel zu weitlaͤuftig ſeyn wuͤrde, ſo begnuͤge ich mich, dieſe Gedanken nur wie eine Hypo- theſe anſehen zu laſſen. Zuvoͤrderſt muß man wohl die Faͤlle unterſcheiden, wo wir mit Sorgfalt auf den ſinnlichen Eindruck acht haben, und die, wo dieß nicht geſchicht. Das letztere iſt das gewoͤhnlichſte. Bey unſern individuellen Em- pfindungen beachten wir ſelten das Beſondere und Eige- ne, wenn wir mit bekannten Objekten zu thun haben, die wir nur im Ganzen unterſcheiden und greifen wollen. Der ſichtliche Schein der Dinge, die um mich in mei- ner Stube ſind, aͤndert ſich ab, je nachdem das Licht ſie aͤndert,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/503
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 443. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/503>, abgerufen am 22.12.2024.