dern urtheilen. Also muß die Fertigkeit im Sehen, we- nigstens in einer gewissen Hinsicht, einige Uebung er- fordern.
Das Urtheilen ist eine Wirkung, die eine Thä- tigkeit der Denkkraft voraussetzet, und diese Thätigkeit erfodert, daß Vorstellungen vorhanden sind. Es kann diese Thätigkeit zurück bleiben. Wie viele Jdeen gehen nicht durch unsern Kopf, ohne daß wir über die Bezie- hungen in ihnen, die sich uns darstellen würden, so bald wir den Blick dahin richteten, reflektiren? Es gehö- ret Uebung dazu, ehe wir es erlernen, auf gewisse neue Gattungen von Vorstellungen unsre Urtheilskraft anzu- wenden.
Ferner kann das Urtheil aus einem andern Grunde als durch Uebung erlernet angesehen werden. Es kann seyn, und es ist wahrscheinlich, daß es so sey, daß die urtheilende Thätigkeiten im Anfang nur als schwache Bestrebungen in der Seele sind, die, wie andere, vorher mehrmalen wiederholet werden müssen, ehe sie so volle Wirkungen werden, wie sie es alsdenn schon sind, wenn wir sie in uns gewahrnehmen. Es ist natürlich, zu glauben, daß jede Art von Seelenthätigkeiten in ih- ren ersten Anfängen in schwachen Versuchen auf eine sol- che Art zu wirken, bestanden haben, die nur durch die Wiederholung endlich zu vollen wirkenden Handlungen gewachsen sind. Allein hievon ist nicht die Rede, wenn ins besonders auf die Entstehungsart der sinnlichen Urtheile gesehen wird, und nicht überhaupt auf den Ak- tus des Urtheilens, und dessen allmähligen Verstärkung bis zu einer Fertigkeit. Ein Feuer hat aus einem Fun- ken vorher müssen angefacht werden, ehe seine Flamme mächtig genug ward, um einen Klotz zu verbrennen, aber wenn es nun so weit ist, so brennet und zündet es seiner Natur nach, ohne solches erst aus Uebung zu er-
lernen.
VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied
dern urtheilen. Alſo muß die Fertigkeit im Sehen, we- nigſtens in einer gewiſſen Hinſicht, einige Uebung er- fordern.
Das Urtheilen iſt eine Wirkung, die eine Thaͤ- tigkeit der Denkkraft vorausſetzet, und dieſe Thaͤtigkeit erfodert, daß Vorſtellungen vorhanden ſind. Es kann dieſe Thaͤtigkeit zuruͤck bleiben. Wie viele Jdeen gehen nicht durch unſern Kopf, ohne daß wir uͤber die Bezie- hungen in ihnen, die ſich uns darſtellen wuͤrden, ſo bald wir den Blick dahin richteten, reflektiren? Es gehoͤ- ret Uebung dazu, ehe wir es erlernen, auf gewiſſe neue Gattungen von Vorſtellungen unſre Urtheilskraft anzu- wenden.
Ferner kann das Urtheil aus einem andern Grunde als durch Uebung erlernet angeſehen werden. Es kann ſeyn, und es iſt wahrſcheinlich, daß es ſo ſey, daß die urtheilende Thaͤtigkeiten im Anfang nur als ſchwache Beſtrebungen in der Seele ſind, die, wie andere, vorher mehrmalen wiederholet werden muͤſſen, ehe ſie ſo volle Wirkungen werden, wie ſie es alsdenn ſchon ſind, wenn wir ſie in uns gewahrnehmen. Es iſt natuͤrlich, zu glauben, daß jede Art von Seelenthaͤtigkeiten in ih- ren erſten Anfaͤngen in ſchwachen Verſuchen auf eine ſol- che Art zu wirken, beſtanden haben, die nur durch die Wiederholung endlich zu vollen wirkenden Handlungen gewachſen ſind. Allein hievon iſt nicht die Rede, wenn ins beſonders auf die Entſtehungsart der ſinnlichen Urtheile geſehen wird, und nicht uͤberhaupt auf den Ak- tus des Urtheilens, und deſſen allmaͤhligen Verſtaͤrkung bis zu einer Fertigkeit. Ein Feuer hat aus einem Fun- ken vorher muͤſſen angefacht werden, ehe ſeine Flamme maͤchtig genug ward, um einen Klotz zu verbrennen, aber wenn es nun ſo weit iſt, ſo brennet und zuͤndet es ſeiner Natur nach, ohne ſolches erſt aus Uebung zu er-
lernen.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0516"n="456"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">VI.</hi> Verſuch. Ueber den Unterſchied</hi></fw><lb/>
dern urtheilen. Alſo muß die Fertigkeit im Sehen, we-<lb/>
nigſtens in einer gewiſſen Hinſicht, einige Uebung er-<lb/>
fordern.</p><lb/><p>Das <hirendition="#fr">Urtheilen</hi> iſt eine Wirkung, die eine Thaͤ-<lb/>
tigkeit der Denkkraft vorausſetzet, und dieſe Thaͤtigkeit<lb/>
erfodert, daß Vorſtellungen vorhanden ſind. Es kann<lb/>
dieſe Thaͤtigkeit zuruͤck bleiben. Wie viele Jdeen gehen<lb/>
nicht durch unſern Kopf, ohne daß wir uͤber die Bezie-<lb/>
hungen in ihnen, die ſich uns darſtellen wuͤrden, ſo bald<lb/>
wir den Blick dahin richteten, reflektiren? Es gehoͤ-<lb/>
ret Uebung dazu, ehe wir es erlernen, auf gewiſſe neue<lb/>
Gattungen von Vorſtellungen unſre Urtheilskraft anzu-<lb/>
wenden.</p><lb/><p>Ferner kann das Urtheil aus einem andern Grunde<lb/>
als durch <hirendition="#fr">Uebung</hi> erlernet angeſehen werden. Es kann<lb/>ſeyn, und es iſt wahrſcheinlich, daß es ſo ſey, daß die<lb/>
urtheilende Thaͤtigkeiten im Anfang nur als ſchwache<lb/><hirendition="#fr">Beſtrebungen</hi> in der Seele ſind, die, wie andere,<lb/>
vorher mehrmalen wiederholet werden muͤſſen, ehe ſie ſo<lb/>
volle Wirkungen werden, wie ſie es alsdenn ſchon ſind,<lb/>
wenn wir ſie in uns gewahrnehmen. Es iſt natuͤrlich,<lb/>
zu glauben, daß jede Art von Seelenthaͤtigkeiten in ih-<lb/>
ren erſten Anfaͤngen in ſchwachen Verſuchen auf eine ſol-<lb/>
che Art zu wirken, beſtanden haben, die nur durch die<lb/>
Wiederholung endlich zu vollen wirkenden Handlungen<lb/>
gewachſen ſind. Allein hievon iſt nicht die Rede, wenn<lb/>
ins beſonders auf die Entſtehungsart der <hirendition="#fr">ſinnlichen</hi><lb/>
Urtheile geſehen wird, und nicht uͤberhaupt auf den Ak-<lb/>
tus des Urtheilens, und deſſen allmaͤhligen Verſtaͤrkung<lb/>
bis zu einer Fertigkeit. Ein Feuer hat aus einem Fun-<lb/>
ken vorher muͤſſen angefacht werden, ehe ſeine Flamme<lb/>
maͤchtig genug ward, um einen Klotz zu verbrennen,<lb/>
aber wenn es nun ſo weit iſt, ſo brennet und zuͤndet es<lb/>ſeiner Natur nach, ohne ſolches erſt aus Uebung zu er-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">lernen.</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[456/0516]
VI. Verſuch. Ueber den Unterſchied
dern urtheilen. Alſo muß die Fertigkeit im Sehen, we-
nigſtens in einer gewiſſen Hinſicht, einige Uebung er-
fordern.
Das Urtheilen iſt eine Wirkung, die eine Thaͤ-
tigkeit der Denkkraft vorausſetzet, und dieſe Thaͤtigkeit
erfodert, daß Vorſtellungen vorhanden ſind. Es kann
dieſe Thaͤtigkeit zuruͤck bleiben. Wie viele Jdeen gehen
nicht durch unſern Kopf, ohne daß wir uͤber die Bezie-
hungen in ihnen, die ſich uns darſtellen wuͤrden, ſo bald
wir den Blick dahin richteten, reflektiren? Es gehoͤ-
ret Uebung dazu, ehe wir es erlernen, auf gewiſſe neue
Gattungen von Vorſtellungen unſre Urtheilskraft anzu-
wenden.
Ferner kann das Urtheil aus einem andern Grunde
als durch Uebung erlernet angeſehen werden. Es kann
ſeyn, und es iſt wahrſcheinlich, daß es ſo ſey, daß die
urtheilende Thaͤtigkeiten im Anfang nur als ſchwache
Beſtrebungen in der Seele ſind, die, wie andere,
vorher mehrmalen wiederholet werden muͤſſen, ehe ſie ſo
volle Wirkungen werden, wie ſie es alsdenn ſchon ſind,
wenn wir ſie in uns gewahrnehmen. Es iſt natuͤrlich,
zu glauben, daß jede Art von Seelenthaͤtigkeiten in ih-
ren erſten Anfaͤngen in ſchwachen Verſuchen auf eine ſol-
che Art zu wirken, beſtanden haben, die nur durch die
Wiederholung endlich zu vollen wirkenden Handlungen
gewachſen ſind. Allein hievon iſt nicht die Rede, wenn
ins beſonders auf die Entſtehungsart der ſinnlichen
Urtheile geſehen wird, und nicht uͤberhaupt auf den Ak-
tus des Urtheilens, und deſſen allmaͤhligen Verſtaͤrkung
bis zu einer Fertigkeit. Ein Feuer hat aus einem Fun-
ken vorher muͤſſen angefacht werden, ehe ſeine Flamme
maͤchtig genug ward, um einen Klotz zu verbrennen,
aber wenn es nun ſo weit iſt, ſo brennet und zuͤndet es
ſeiner Natur nach, ohne ſolches erſt aus Uebung zu er-
lernen.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 456. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/516>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.