unserer Reflexion den Gedanken abdringen, daß die äus- sern Körper auf uns wirken. Was hieraus folgen soll? So viel, daß die ehedem auf den Verstand wirksam ge- wesenen Gründe, die ihn zum Beyfall bewogen haben, noch jetzo auf ihn wirken können, ohne denselben Erfolg zu haben; und daß also der Aktus des Urtheilens et- was eigenes ist, was dem ihn erregenden Gefühl nach- gehet, aber nicht einerley mit ihm selbst ist, sondern viel- mehr von diesen seinen vorhergehenden Umständen ge- trennet werden kann, wenn andere Ursachen dazwischen treten.
Was in diesem Beyspiele die Gegengründe thun, das können statt ihrer in andern Fällen die Zweifelsucht, das Mißtrauen und die Aengstlichkeit im Entscheiden, eine Wirkung von einer sorgfältigen Untersuchung bey einem feinen, aber etwas schwachen Verstande, ausrich- ten. Nichts mehr als der allgemeine Grund, daß man sich leicht irren könne, darf bey solchen ängstlichen Per- sonen der Seele vorschweben. Da fehlet es gewiß nicht allemal weder an der nöthigen Klarheit in den Jdeen, noch an der erfoderlichen Stärke in dem Gefühl; es feh- let an der nöthigen Festigkeit der eigentlichen Denkkraft, wovon der Verhältnißgedanke abhängt. Diese letztere ist es, welche zu schwach ist, um durch die vorliegende Gründe zu einer so klaren und starken Gewahrnehmung der Beziehung zu gelangen, die sich innig genug mit den Jdeen vereiniget, und auch in der Wiedervereinigung den Beyfall fest hält. Jeder Gegengrund hat Kraft ge- nug, sie zurück zu halten, und allein der Gedanke, daß eine Uebereilung möglich sey, wirket so lebhaft auf die schwache Reflexion, als bey andern die Vermuthung ei- nes wirklichen begangenen Versehens. Bey andern Zweiflern ist es eine Art von Ungelenksamkeit in der Denkkraft. Man kann sich so stark angewöhnen, sein Urtheil zurückzuhalten, daß das Gewahrnehmungsver-
mögen
IX. Verſuch. Ueber das Grundprincip
unſerer Reflexion den Gedanken abdringen, daß die aͤuſ- ſern Koͤrper auf uns wirken. Was hieraus folgen ſoll? So viel, daß die ehedem auf den Verſtand wirkſam ge- weſenen Gruͤnde, die ihn zum Beyfall bewogen haben, noch jetzo auf ihn wirken koͤnnen, ohne denſelben Erfolg zu haben; und daß alſo der Aktus des Urtheilens et- was eigenes iſt, was dem ihn erregenden Gefuͤhl nach- gehet, aber nicht einerley mit ihm ſelbſt iſt, ſondern viel- mehr von dieſen ſeinen vorhergehenden Umſtaͤnden ge- trennet werden kann, wenn andere Urſachen dazwiſchen treten.
Was in dieſem Beyſpiele die Gegengruͤnde thun, das koͤnnen ſtatt ihrer in andern Faͤllen die Zweifelſucht, das Mißtrauen und die Aengſtlichkeit im Entſcheiden, eine Wirkung von einer ſorgfaͤltigen Unterſuchung bey einem feinen, aber etwas ſchwachen Verſtande, ausrich- ten. Nichts mehr als der allgemeine Grund, daß man ſich leicht irren koͤnne, darf bey ſolchen aͤngſtlichen Per- ſonen der Seele vorſchweben. Da fehlet es gewiß nicht allemal weder an der noͤthigen Klarheit in den Jdeen, noch an der erfoderlichen Staͤrke in dem Gefuͤhl; es feh- let an der noͤthigen Feſtigkeit der eigentlichen Denkkraft, wovon der Verhaͤltnißgedanke abhaͤngt. Dieſe letztere iſt es, welche zu ſchwach iſt, um durch die vorliegende Gruͤnde zu einer ſo klaren und ſtarken Gewahrnehmung der Beziehung zu gelangen, die ſich innig genug mit den Jdeen vereiniget, und auch in der Wiedervereinigung den Beyfall feſt haͤlt. Jeder Gegengrund hat Kraft ge- nug, ſie zuruͤck zu halten, und allein der Gedanke, daß eine Uebereilung moͤglich ſey, wirket ſo lebhaft auf die ſchwache Reflexion, als bey andern die Vermuthung ei- nes wirklichen begangenen Verſehens. Bey andern Zweiflern iſt es eine Art von Ungelenkſamkeit in der Denkkraft. Man kann ſich ſo ſtark angewoͤhnen, ſein Urtheil zuruͤckzuhalten, daß das Gewahrnehmungsver-
moͤgen
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IX. Verſuch. Ueber das Grundprincip
unſerer Reflexion den Gedanken abdringen, daß die aͤuſ-
ſern Koͤrper auf uns wirken. Was hieraus folgen ſoll?
So viel, daß die ehedem auf den Verſtand wirkſam ge-
weſenen Gruͤnde, die ihn zum Beyfall bewogen haben,
noch jetzo auf ihn wirken koͤnnen, ohne denſelben Erfolg
zu haben; und daß alſo der Aktus des Urtheilens et-
was eigenes iſt, was dem ihn erregenden Gefuͤhl nach-
gehet, aber nicht einerley mit ihm ſelbſt iſt, ſondern viel-
mehr von dieſen ſeinen vorhergehenden Umſtaͤnden ge-
trennet werden kann, wenn andere Urſachen dazwiſchen
treten.
Was in dieſem Beyſpiele die Gegengruͤnde thun,
das koͤnnen ſtatt ihrer in andern Faͤllen die Zweifelſucht,
das Mißtrauen und die Aengſtlichkeit im Entſcheiden,
eine Wirkung von einer ſorgfaͤltigen Unterſuchung bey
einem feinen, aber etwas ſchwachen Verſtande, ausrich-
ten. Nichts mehr als der allgemeine Grund, daß man
ſich leicht irren koͤnne, darf bey ſolchen aͤngſtlichen Per-
ſonen der Seele vorſchweben. Da fehlet es gewiß nicht
allemal weder an der noͤthigen Klarheit in den Jdeen,
noch an der erfoderlichen Staͤrke in dem Gefuͤhl; es feh-
let an der noͤthigen Feſtigkeit der eigentlichen Denkkraft,
wovon der Verhaͤltnißgedanke abhaͤngt. Dieſe letztere
iſt es, welche zu ſchwach iſt, um durch die vorliegende
Gruͤnde zu einer ſo klaren und ſtarken Gewahrnehmung
der Beziehung zu gelangen, die ſich innig genug mit den
Jdeen vereiniget, und auch in der Wiedervereinigung
den Beyfall feſt haͤlt. Jeder Gegengrund hat Kraft ge-
nug, ſie zuruͤck zu halten, und allein der Gedanke, daß
eine Uebereilung moͤglich ſey, wirket ſo lebhaft auf die
ſchwache Reflexion, als bey andern die Vermuthung ei-
nes wirklichen begangenen Verſehens. Bey andern
Zweiflern iſt es eine Art von Ungelenkſamkeit in der
Denkkraft. Man kann ſich ſo ſtark angewoͤhnen, ſein
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 604. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/664>, abgerufen am 22.12.2024.
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