in eine ähnliche Empfindung versetzet werden, und wie überhaupt unser Herz auf dieselbige Art gestimmet wird, wie ein anderes es ist, dessen Zustand wir nur äußerlich empfinden, so giebt es hier eben so viele verschiedene Ue- bergänge aus einem Herzen in das andere, als wir bey dem Nachmachen fremder Handlungen gefunden haben.
Jch höre den Klageton, das Winseln und Schreyen des Leidenden. Diesen Ton kenne ich, er ist der Aus- druck meines eigenen Schmerzens gewesen. Die Vor- stellung des Schmerzens wird also durch ihn erweckt, geht in Empfindung über und ich leide mit.
Das Gehör hat eine gedoppelte merkwürdige Ei- genschaft. Wir können keine Empfindung aus einem der übrigen Sinne so vollkommen nachmachen, und an- dern wiederum zu empfinden geben, als die Schallarten und Töne durch das Stimmorgan. Sollte ich den Wald, den ich gesehen habe, andern wieder sichtbar ma- chen, so müßte ich ihn zeichnen oder malen. Das zwote ist, daß die Töne, welche wir hervorbringen, und in welchen wir unsere Empfindungen ausdrücken, zugleich von uns und zwar auf dieselbige Art gehörer werden, als von andern. Machen wir eines andern Mienen nach, so sehen wir sie doch selbst an uns nicht, oder wir müßten vor dem Spiegel stehen. Die erste Beschaffenheit, welche Hr. Herder nicht bemerket hat, macht diesen Sinn mehr zu dem natürlichen Sinn der Sprache, als alle die übrigen Eigenschaften, die ihm als einen Mit- telsinn zukommen. Die zwote ist aber hier am meisten merkwürdig. Sie macht es begreiflich, warum der Weg von dem Herzen zu dem Herzen durch das Gehör ohne Ausnahme der kürzeste ist, wenn nur Mitgefühle erre- get werden sollen, die von Natur in Töne ausbrechen.
Wenn wir mitweinen mit dem, den wir weinen se- hen, so geschicht das auf eine ähnliche Art, als wir mit einem andern gähnen. Was wir dem Weinenden an-
sehen,
X. Verſuch. Ueber die Beziehung
in eine aͤhnliche Empfindung verſetzet werden, und wie uͤberhaupt unſer Herz auf dieſelbige Art geſtimmet wird, wie ein anderes es iſt, deſſen Zuſtand wir nur aͤußerlich empfinden, ſo giebt es hier eben ſo viele verſchiedene Ue- bergaͤnge aus einem Herzen in das andere, als wir bey dem Nachmachen fremder Handlungen gefunden haben.
Jch hoͤre den Klageton, das Winſeln und Schreyen des Leidenden. Dieſen Ton kenne ich, er iſt der Aus- druck meines eigenen Schmerzens geweſen. Die Vor- ſtellung des Schmerzens wird alſo durch ihn erweckt, geht in Empfindung uͤber und ich leide mit.
Das Gehoͤr hat eine gedoppelte merkwuͤrdige Ei- genſchaft. Wir koͤnnen keine Empfindung aus einem der uͤbrigen Sinne ſo vollkommen nachmachen, und an- dern wiederum zu empfinden geben, als die Schallarten und Toͤne durch das Stimmorgan. Sollte ich den Wald, den ich geſehen habe, andern wieder ſichtbar ma- chen, ſo muͤßte ich ihn zeichnen oder malen. Das zwote iſt, daß die Toͤne, welche wir hervorbringen, und in welchen wir unſere Empfindungen ausdruͤcken, zugleich von uns und zwar auf dieſelbige Art gehoͤrer werden, als von andern. Machen wir eines andern Mienen nach, ſo ſehen wir ſie doch ſelbſt an uns nicht, oder wir muͤßten vor dem Spiegel ſtehen. Die erſte Beſchaffenheit, welche Hr. Herder nicht bemerket hat, macht dieſen Sinn mehr zu dem natuͤrlichen Sinn der Sprache, als alle die uͤbrigen Eigenſchaften, die ihm als einen Mit- telſinn zukommen. Die zwote iſt aber hier am meiſten merkwuͤrdig. Sie macht es begreiflich, warum der Weg von dem Herzen zu dem Herzen durch das Gehoͤr ohne Ausnahme der kuͤrzeſte iſt, wenn nur Mitgefuͤhle erre- get werden ſollen, die von Natur in Toͤne ausbrechen.
Wenn wir mitweinen mit dem, den wir weinen ſe- hen, ſo geſchicht das auf eine aͤhnliche Art, als wir mit einem andern gaͤhnen. Was wir dem Weinenden an-
ſehen,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0738"n="678"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">X.</hi> Verſuch. Ueber die Beziehung</hi></fw><lb/>
in eine aͤhnliche Empfindung verſetzet werden, und wie<lb/>
uͤberhaupt unſer Herz auf dieſelbige Art geſtimmet wird,<lb/>
wie ein anderes es iſt, deſſen Zuſtand wir nur aͤußerlich<lb/>
empfinden, ſo giebt es hier eben ſo viele verſchiedene Ue-<lb/>
bergaͤnge aus einem Herzen in das andere, als wir bey<lb/>
dem Nachmachen fremder Handlungen gefunden haben.</p><lb/><p>Jch hoͤre den Klageton, das Winſeln und Schreyen<lb/>
des Leidenden. Dieſen Ton kenne ich, er iſt der Aus-<lb/>
druck meines eigenen Schmerzens geweſen. Die Vor-<lb/>ſtellung des Schmerzens wird alſo durch ihn erweckt,<lb/>
geht in Empfindung uͤber und ich leide mit.</p><lb/><p>Das Gehoͤr hat eine gedoppelte merkwuͤrdige Ei-<lb/>
genſchaft. Wir koͤnnen keine Empfindung aus einem<lb/>
der uͤbrigen Sinne ſo vollkommen nachmachen, und an-<lb/>
dern wiederum zu empfinden geben, als die Schallarten<lb/>
und Toͤne durch das Stimmorgan. Sollte ich den<lb/>
Wald, den ich geſehen habe, andern wieder ſichtbar ma-<lb/>
chen, ſo muͤßte ich ihn zeichnen oder malen. Das zwote<lb/>
iſt, daß die Toͤne, welche wir hervorbringen, und in<lb/>
welchen wir unſere Empfindungen ausdruͤcken, zugleich<lb/>
von uns und zwar auf dieſelbige Art gehoͤrer werden, als<lb/>
von andern. Machen wir eines andern Mienen nach,<lb/>ſo ſehen wir ſie doch ſelbſt an uns nicht, oder wir muͤßten<lb/>
vor dem Spiegel ſtehen. Die erſte Beſchaffenheit,<lb/>
welche Hr. <hirendition="#fr">Herder</hi> nicht bemerket hat, macht dieſen<lb/>
Sinn mehr zu dem natuͤrlichen Sinn der Sprache, als<lb/>
alle die uͤbrigen Eigenſchaften, die ihm als einen Mit-<lb/>
telſinn zukommen. Die zwote iſt aber hier am meiſten<lb/>
merkwuͤrdig. Sie macht es begreiflich, warum der Weg<lb/>
von dem Herzen zu dem Herzen durch das Gehoͤr ohne<lb/>
Ausnahme der kuͤrzeſte iſt, wenn nur Mitgefuͤhle erre-<lb/>
get werden ſollen, die von Natur in Toͤne ausbrechen.</p><lb/><p>Wenn wir mitweinen mit dem, den wir weinen ſe-<lb/>
hen, ſo geſchicht das auf eine aͤhnliche Art, als wir mit<lb/>
einem andern gaͤhnen. Was wir dem Weinenden an-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſehen,</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[678/0738]
X. Verſuch. Ueber die Beziehung
in eine aͤhnliche Empfindung verſetzet werden, und wie
uͤberhaupt unſer Herz auf dieſelbige Art geſtimmet wird,
wie ein anderes es iſt, deſſen Zuſtand wir nur aͤußerlich
empfinden, ſo giebt es hier eben ſo viele verſchiedene Ue-
bergaͤnge aus einem Herzen in das andere, als wir bey
dem Nachmachen fremder Handlungen gefunden haben.
Jch hoͤre den Klageton, das Winſeln und Schreyen
des Leidenden. Dieſen Ton kenne ich, er iſt der Aus-
druck meines eigenen Schmerzens geweſen. Die Vor-
ſtellung des Schmerzens wird alſo durch ihn erweckt,
geht in Empfindung uͤber und ich leide mit.
Das Gehoͤr hat eine gedoppelte merkwuͤrdige Ei-
genſchaft. Wir koͤnnen keine Empfindung aus einem
der uͤbrigen Sinne ſo vollkommen nachmachen, und an-
dern wiederum zu empfinden geben, als die Schallarten
und Toͤne durch das Stimmorgan. Sollte ich den
Wald, den ich geſehen habe, andern wieder ſichtbar ma-
chen, ſo muͤßte ich ihn zeichnen oder malen. Das zwote
iſt, daß die Toͤne, welche wir hervorbringen, und in
welchen wir unſere Empfindungen ausdruͤcken, zugleich
von uns und zwar auf dieſelbige Art gehoͤrer werden, als
von andern. Machen wir eines andern Mienen nach,
ſo ſehen wir ſie doch ſelbſt an uns nicht, oder wir muͤßten
vor dem Spiegel ſtehen. Die erſte Beſchaffenheit,
welche Hr. Herder nicht bemerket hat, macht dieſen
Sinn mehr zu dem natuͤrlichen Sinn der Sprache, als
alle die uͤbrigen Eigenſchaften, die ihm als einen Mit-
telſinn zukommen. Die zwote iſt aber hier am meiſten
merkwuͤrdig. Sie macht es begreiflich, warum der Weg
von dem Herzen zu dem Herzen durch das Gehoͤr ohne
Ausnahme der kuͤrzeſte iſt, wenn nur Mitgefuͤhle erre-
get werden ſollen, die von Natur in Toͤne ausbrechen.
Wenn wir mitweinen mit dem, den wir weinen ſe-
hen, ſo geſchicht das auf eine aͤhnliche Art, als wir mit
einem andern gaͤhnen. Was wir dem Weinenden an-
ſehen,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 678. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/738>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.