Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

X. Versuch. Ueber die Beziehung
lich sinnliche Sachen und Beschaffenheiten sind? kann
man daran zweifeln, daß es nicht mehrere Beschaffen-
heiten, Wirkungsarten und Effekte der Körper gebe, zu
denen uns der Sinn fehlet, und die uns vielleicht künf-
tig ein sechster Sinn lehren wird? Worinn bestehet
denn jener ihre Fühlbarkeit?

Auf diese Frage kann man wenig oder nichts antwor-
ten. Wer kennet die Modifikabilität der Seele so von
Grund aus? Man hat keine Begriffe von Einwirkun-
gen auf sie, davon sie so wenig verändert wird, und die
sie so wenig empfindet, als die Ohren das Licht.

Aber wenn man Schlüsse mit Erfahrungen verbin-
det, so wird es doch sehr wahrscheinlich, daß die Augen
zum Exempel nicht so wohl Werkzeuge sind, wodurch
das Licht auf die Seele wirket, und sie verändert, son-
dern vielmehr Werkzeuge, wodurch diese Lichtseindrücke
allein und abgesondert von den Eindrücken anderer
Körper und anderer Kräfte uns zugeführet werden.
Dieß ist der wesentlichste und charakteristische Dienst der
unterschiedenen Sinnglieder, und dahin geht das Ei-
gene in ihrer Einrichtung. Sie wirken wie Absonde-
rungsgefäße, die aus der ganzen vermischten Masse al-
ler auf die Seele fallenden Eindrücke von außen, diese
oder jene besondere Art absondern, oder sie doch abge-
sondert und unvermischt mit den übrigen der Seele vor-
legen. Die Augen geben der Seele keine neue Em-
pfänglichkeit, die sie vorher nicht hatte; und bringen ihr
eben so wenig neue Eindrücke von eigenen Körpern oder
besondern Kräften zu, die ihr nicht schon durch ihre übri-
gen Sinne zugesühret waren. Die Wirkungen des
Lichts, und seine Eindrücke, welche es als Licht, hervor-
bringet, sind auch in den Empfindungen des körperli-
chen Gefühls begriffen, wie außer Zweifel ist. Aber es
fehlte noch, daß diese Art von Eindrücken abgesondert
und unterscheidbar von der Seele erhalten würde. Und

das

X. Verſuch. Ueber die Beziehung
lich ſinnliche Sachen und Beſchaffenheiten ſind? kann
man daran zweifeln, daß es nicht mehrere Beſchaffen-
heiten, Wirkungsarten und Effekte der Koͤrper gebe, zu
denen uns der Sinn fehlet, und die uns vielleicht kuͤnf-
tig ein ſechſter Sinn lehren wird? Worinn beſtehet
denn jener ihre Fuͤhlbarkeit?

Auf dieſe Frage kann man wenig oder nichts antwor-
ten. Wer kennet die Modifikabilitaͤt der Seele ſo von
Grund aus? Man hat keine Begriffe von Einwirkun-
gen auf ſie, davon ſie ſo wenig veraͤndert wird, und die
ſie ſo wenig empfindet, als die Ohren das Licht.

Aber wenn man Schluͤſſe mit Erfahrungen verbin-
det, ſo wird es doch ſehr wahrſcheinlich, daß die Augen
zum Exempel nicht ſo wohl Werkzeuge ſind, wodurch
das Licht auf die Seele wirket, und ſie veraͤndert, ſon-
dern vielmehr Werkzeuge, wodurch dieſe Lichtseindruͤcke
allein und abgeſondert von den Eindruͤcken anderer
Koͤrper und anderer Kraͤfte uns zugefuͤhret werden.
Dieß iſt der weſentlichſte und charakteriſtiſche Dienſt der
unterſchiedenen Sinnglieder, und dahin geht das Ei-
gene in ihrer Einrichtung. Sie wirken wie Abſonde-
rungsgefaͤße, die aus der ganzen vermiſchten Maſſe al-
ler auf die Seele fallenden Eindruͤcke von außen, dieſe
oder jene beſondere Art abſondern, oder ſie doch abge-
ſondert und unvermiſcht mit den uͤbrigen der Seele vor-
legen. Die Augen geben der Seele keine neue Em-
pfaͤnglichkeit, die ſie vorher nicht hatte; und bringen ihr
eben ſo wenig neue Eindruͤcke von eigenen Koͤrpern oder
beſondern Kraͤften zu, die ihr nicht ſchon durch ihre uͤbri-
gen Sinne zugeſuͤhret waren. Die Wirkungen des
Lichts, und ſeine Eindruͤcke, welche es als Licht, hervor-
bringet, ſind auch in den Empfindungen des koͤrperli-
chen Gefuͤhls begriffen, wie außer Zweifel iſt. Aber es
fehlte noch, daß dieſe Art von Eindruͤcken abgeſondert
und unterſcheidbar von der Seele erhalten wuͤrde. Und

das
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0768" n="708"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">X.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber die Beziehung</hi></fw><lb/>
lich &#x017F;innliche Sachen und Be&#x017F;chaffenheiten &#x017F;ind? kann<lb/>
man daran zweifeln, daß es nicht mehrere Be&#x017F;chaffen-<lb/>
heiten, Wirkungsarten und Effekte der Ko&#x0364;rper gebe, zu<lb/>
denen uns der Sinn fehlet, und die uns vielleicht ku&#x0364;nf-<lb/>
tig ein &#x017F;ech&#x017F;ter Sinn lehren wird? Worinn be&#x017F;tehet<lb/>
denn jener ihre Fu&#x0364;hlbarkeit?</p><lb/>
            <p>Auf die&#x017F;e Frage kann man wenig oder nichts antwor-<lb/>
ten. Wer kennet die Modifikabilita&#x0364;t der Seele &#x017F;o von<lb/>
Grund aus? Man hat keine Begriffe von Einwirkun-<lb/>
gen auf &#x017F;ie, davon &#x017F;ie &#x017F;o wenig vera&#x0364;ndert wird, und die<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;o wenig empfindet, als die Ohren das Licht.</p><lb/>
            <p>Aber wenn man Schlu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e mit Erfahrungen verbin-<lb/>
det, &#x017F;o wird es doch &#x017F;ehr wahr&#x017F;cheinlich, daß die Augen<lb/>
zum Exempel nicht &#x017F;o wohl Werkzeuge &#x017F;ind, wodurch<lb/>
das Licht auf die Seele wirket, und &#x017F;ie vera&#x0364;ndert, &#x017F;on-<lb/>
dern vielmehr Werkzeuge, wodurch die&#x017F;e Lichtseindru&#x0364;cke<lb/><hi rendition="#fr">allein</hi> und <hi rendition="#fr">abge&#x017F;ondert</hi> von den Eindru&#x0364;cken anderer<lb/>
Ko&#x0364;rper und anderer Kra&#x0364;fte uns zugefu&#x0364;hret werden.<lb/>
Dieß i&#x017F;t der we&#x017F;entlich&#x017F;te und charakteri&#x017F;ti&#x017F;che Dien&#x017F;t der<lb/>
unter&#x017F;chiedenen Sinnglieder, und dahin geht das Ei-<lb/>
gene in ihrer Einrichtung. Sie wirken wie Ab&#x017F;onde-<lb/>
rungsgefa&#x0364;ße, die aus der ganzen vermi&#x017F;chten Ma&#x017F;&#x017F;e al-<lb/>
ler auf die Seele fallenden Eindru&#x0364;cke von außen, die&#x017F;e<lb/>
oder jene be&#x017F;ondere Art ab&#x017F;ondern, oder &#x017F;ie doch abge-<lb/>
&#x017F;ondert und unvermi&#x017F;cht mit den u&#x0364;brigen der Seele vor-<lb/>
legen. Die Augen geben <hi rendition="#fr">der Seele</hi> keine neue Em-<lb/>
pfa&#x0364;nglichkeit, die &#x017F;ie vorher nicht hatte; und bringen ihr<lb/>
eben &#x017F;o wenig neue Eindru&#x0364;cke von eigenen Ko&#x0364;rpern oder<lb/>
be&#x017F;ondern Kra&#x0364;ften zu, die ihr nicht &#x017F;chon durch ihre u&#x0364;bri-<lb/>
gen Sinne zuge&#x017F;u&#x0364;hret waren. Die Wirkungen des<lb/>
Lichts, und &#x017F;eine Eindru&#x0364;cke, welche es als Licht, hervor-<lb/>
bringet, &#x017F;ind auch in den Empfindungen des ko&#x0364;rperli-<lb/>
chen Gefu&#x0364;hls begriffen, wie außer Zweifel i&#x017F;t. Aber es<lb/>
fehlte noch, daß die&#x017F;e Art von Eindru&#x0364;cken abge&#x017F;ondert<lb/>
und unter&#x017F;cheidbar von der Seele erhalten wu&#x0364;rde. Und<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">das</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[708/0768] X. Verſuch. Ueber die Beziehung lich ſinnliche Sachen und Beſchaffenheiten ſind? kann man daran zweifeln, daß es nicht mehrere Beſchaffen- heiten, Wirkungsarten und Effekte der Koͤrper gebe, zu denen uns der Sinn fehlet, und die uns vielleicht kuͤnf- tig ein ſechſter Sinn lehren wird? Worinn beſtehet denn jener ihre Fuͤhlbarkeit? Auf dieſe Frage kann man wenig oder nichts antwor- ten. Wer kennet die Modifikabilitaͤt der Seele ſo von Grund aus? Man hat keine Begriffe von Einwirkun- gen auf ſie, davon ſie ſo wenig veraͤndert wird, und die ſie ſo wenig empfindet, als die Ohren das Licht. Aber wenn man Schluͤſſe mit Erfahrungen verbin- det, ſo wird es doch ſehr wahrſcheinlich, daß die Augen zum Exempel nicht ſo wohl Werkzeuge ſind, wodurch das Licht auf die Seele wirket, und ſie veraͤndert, ſon- dern vielmehr Werkzeuge, wodurch dieſe Lichtseindruͤcke allein und abgeſondert von den Eindruͤcken anderer Koͤrper und anderer Kraͤfte uns zugefuͤhret werden. Dieß iſt der weſentlichſte und charakteriſtiſche Dienſt der unterſchiedenen Sinnglieder, und dahin geht das Ei- gene in ihrer Einrichtung. Sie wirken wie Abſonde- rungsgefaͤße, die aus der ganzen vermiſchten Maſſe al- ler auf die Seele fallenden Eindruͤcke von außen, dieſe oder jene beſondere Art abſondern, oder ſie doch abge- ſondert und unvermiſcht mit den uͤbrigen der Seele vor- legen. Die Augen geben der Seele keine neue Em- pfaͤnglichkeit, die ſie vorher nicht hatte; und bringen ihr eben ſo wenig neue Eindruͤcke von eigenen Koͤrpern oder beſondern Kraͤften zu, die ihr nicht ſchon durch ihre uͤbri- gen Sinne zugeſuͤhret waren. Die Wirkungen des Lichts, und ſeine Eindruͤcke, welche es als Licht, hervor- bringet, ſind auch in den Empfindungen des koͤrperli- chen Gefuͤhls begriffen, wie außer Zweifel iſt. Aber es fehlte noch, daß dieſe Art von Eindruͤcken abgeſondert und unterſcheidbar von der Seele erhalten wuͤrde. Und das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/768
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 708. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/768>, abgerufen am 22.12.2024.