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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

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der Vorstellungskraft etc.
ständen, unter welchen er wirket, vergleichen, um zu
begreifen, daß dieß Beyspiel von der Regel nicht ab-
weiche.

Jede einzelne Empfindung ist an sich vielbefassend
und unauseinandergesetzt. Däraus folget, daß auch eine
jede ihrer innern Jntension gemäß, im Anfange affici-
ren und bewegen müsse; daß keine ursprünglich ganz
und gar gleichgültig sey, so lange sie noch neu ist. Aber
wenn ihre Menge sich in der Seele aufgehäufet hat, so er-
halten sie außer ihrer absoluten innern Quantität, eine
relative Größe, und die Eine Art wird in Hinsicht auf
die andere klein und unbedeutend. Jedwede wirket im
Anfang auf das gesammte Grundprincip der Seele, und
auf alle seine Kräfte, und dieser Einfluß wird auch nie
ganz ein Nichts. Aber die Eine wird doch mehr affici-
rend, und die andere weniger; die eine bewegt, und die
andere läßt uns in Ruhe. Bey diesen Wirkungen sehen
wir nur darauf, daß sie vorzüglich das sind, wofür wir
sie halten, und es mehr sind, als andere; und eben eine
solche Vergleichung, und einen solchen Ueberschlag muß
man auch nicht aus den Augen setzen, wenn über ihre
Ursachen geurtheilet wird.

Zu schwache Empfindungen wirken nichts; reizen
nicht und bewegen nicht, aber allzuheftige haben eine
ähnliche Wirkung; sie betäuben. Jn der Körperwelt
ist das Gesetz von der Aehnlichkeit des Aeußersten
in den entgegengesetzten Dingen
bekannt. Die
heftigste Kälte hat ähnliche Wirkungen mit der größten
Hitze; aber diese Aehnlichkeit ist keine völlige Einerley-
heit, sondern es nur zum Theil und in gewisser Hinsicht.
Es giebt ein ähnliches Gesetz in der Psychologie. Auch
bey den Seelen giebt es einen gewissen Grad, über wel-
chen die Lebhaftigkeit und Stärke der Empfindung nicht
steigen darf, ohne sie in einen Zustand zu versetzen, worinn

sie
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der Vorſtellungskraft ⁊c.
ſtaͤnden, unter welchen er wirket, vergleichen, um zu
begreifen, daß dieß Beyſpiel von der Regel nicht ab-
weiche.

Jede einzelne Empfindung iſt an ſich vielbefaſſend
und unauseinandergeſetzt. Daͤraus folget, daß auch eine
jede ihrer innern Jntenſion gemaͤß, im Anfange affici-
ren und bewegen muͤſſe; daß keine urſpruͤnglich ganz
und gar gleichguͤltig ſey, ſo lange ſie noch neu iſt. Aber
wenn ihre Menge ſich in der Seele aufgehaͤufet hat, ſo er-
halten ſie außer ihrer abſoluten innern Quantitaͤt, eine
relative Groͤße, und die Eine Art wird in Hinſicht auf
die andere klein und unbedeutend. Jedwede wirket im
Anfang auf das geſammte Grundprincip der Seele, und
auf alle ſeine Kraͤfte, und dieſer Einfluß wird auch nie
ganz ein Nichts. Aber die Eine wird doch mehr affici-
rend, und die andere weniger; die eine bewegt, und die
andere laͤßt uns in Ruhe. Bey dieſen Wirkungen ſehen
wir nur darauf, daß ſie vorzuͤglich das ſind, wofuͤr wir
ſie halten, und es mehr ſind, als andere; und eben eine
ſolche Vergleichung, und einen ſolchen Ueberſchlag muß
man auch nicht aus den Augen ſetzen, wenn uͤber ihre
Urſachen geurtheilet wird.

Zu ſchwache Empfindungen wirken nichts; reizen
nicht und bewegen nicht, aber allzuheftige haben eine
aͤhnliche Wirkung; ſie betaͤuben. Jn der Koͤrperwelt
iſt das Geſetz von der Aehnlichkeit des Aeußerſten
in den entgegengeſetzten Dingen
bekannt. Die
heftigſte Kaͤlte hat aͤhnliche Wirkungen mit der groͤßten
Hitze; aber dieſe Aehnlichkeit iſt keine voͤllige Einerley-
heit, ſondern es nur zum Theil und in gewiſſer Hinſicht.
Es giebt ein aͤhnliches Geſetz in der Pſychologie. Auch
bey den Seelen giebt es einen gewiſſen Grad, uͤber wel-
chen die Lebhaftigkeit und Staͤrke der Empfindung nicht
ſteigen darf, ohne ſie in einen Zuſtand zu verſetzen, worinn

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[711/0771] der Vorſtellungskraft ⁊c. ſtaͤnden, unter welchen er wirket, vergleichen, um zu begreifen, daß dieß Beyſpiel von der Regel nicht ab- weiche. Jede einzelne Empfindung iſt an ſich vielbefaſſend und unauseinandergeſetzt. Daͤraus folget, daß auch eine jede ihrer innern Jntenſion gemaͤß, im Anfange affici- ren und bewegen muͤſſe; daß keine urſpruͤnglich ganz und gar gleichguͤltig ſey, ſo lange ſie noch neu iſt. Aber wenn ihre Menge ſich in der Seele aufgehaͤufet hat, ſo er- halten ſie außer ihrer abſoluten innern Quantitaͤt, eine relative Groͤße, und die Eine Art wird in Hinſicht auf die andere klein und unbedeutend. Jedwede wirket im Anfang auf das geſammte Grundprincip der Seele, und auf alle ſeine Kraͤfte, und dieſer Einfluß wird auch nie ganz ein Nichts. Aber die Eine wird doch mehr affici- rend, und die andere weniger; die eine bewegt, und die andere laͤßt uns in Ruhe. Bey dieſen Wirkungen ſehen wir nur darauf, daß ſie vorzuͤglich das ſind, wofuͤr wir ſie halten, und es mehr ſind, als andere; und eben eine ſolche Vergleichung, und einen ſolchen Ueberſchlag muß man auch nicht aus den Augen ſetzen, wenn uͤber ihre Urſachen geurtheilet wird. Zu ſchwache Empfindungen wirken nichts; reizen nicht und bewegen nicht, aber allzuheftige haben eine aͤhnliche Wirkung; ſie betaͤuben. Jn der Koͤrperwelt iſt das Geſetz von der Aehnlichkeit des Aeußerſten in den entgegengeſetzten Dingen bekannt. Die heftigſte Kaͤlte hat aͤhnliche Wirkungen mit der groͤßten Hitze; aber dieſe Aehnlichkeit iſt keine voͤllige Einerley- heit, ſondern es nur zum Theil und in gewiſſer Hinſicht. Es giebt ein aͤhnliches Geſetz in der Pſychologie. Auch bey den Seelen giebt es einen gewiſſen Grad, uͤber wel- chen die Lebhaftigkeit und Staͤrke der Empfindung nicht ſteigen darf, ohne ſie in einen Zuſtand zu verſetzen, worinn ſie Y y 4

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 711. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/771>, abgerufen am 22.12.2024.