Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

X. Versuch. Ueber die Beziehung
sen seyn. Allein dieß ist es nicht, worauf es hier eigentlich
ankommt. Die Empfindung kann deswegen, als ein
gefühlter gegenwärtiger Zustand, für sich ganz geschmack-
los seyn. Dem Geometer machet der Anblick seiner Fi-
guren kein solches Vergnügen, wie dem Kenner der An-
blick schöner Gemälde; aber jene setzen seine Vernunft
in Arbeit, und diese Arbeit ist es, welche ihn ergötzet,
und als eine afficirende Empfindung seinen thätigen Wil-
len beweget, und ihn daher bestimmet, sich dieß Ver-
gnügen länger und mehrmalen zu verschaffen. Wenn
die afficirenden Empfindungen von solchen unterschieden
werden, die auf die Erkenntnißkraft wirken, so setzet
man das Charakteristische von ihnen darinn, daß jene
als gegenwärtige Beschaffenheiten angenehm oder wie-
drig sind, und daher die Kraft der Seele bestimmen,
solche zu unterhalten, oder zu verändern; dagegen dieje-
nigen, welche nur die Vorstellungskraft reizen, für sich
weder gefallen noch mißfallen, sondern nur aufgenom-
men, und abgebildet werden, welche Beschäfftigung
selbst angenehm oder unangenehm seyn kann, und andere
dergleichen Folgen veranlassen. Diese Erinnerung ist
vielleicht überflüßig, aber in mikroskopischen Untersuchun-
gen kann man nicht leicht allzuscharf und allzu genau zu-
sehen.

6.

Die empfindsamen Veränderungen, und die be-
wegenden
haben den gemeinschaftlichen Charakter, daß
sie stärker und verwirrter sind, als diejenigen, auf
welche sich die Vorstellungskraft verwendet. Aber wenn
nun von neuen die Frage ist, welche unter diesen denn
vorzüglich die Empfindsamkeit unterhalten, und wel-
che mehr die Triebfedern für die handelnde Thätigkeits-
kraft sind, so deucht mich, die Beobachtungen führen
dahin, das erstere sey eine Folge des Angenehmen;

das

X. Verſuch. Ueber die Beziehung
ſen ſeyn. Allein dieß iſt es nicht, worauf es hier eigentlich
ankommt. Die Empfindung kann deswegen, als ein
gefuͤhlter gegenwaͤrtiger Zuſtand, fuͤr ſich ganz geſchmack-
los ſeyn. Dem Geometer machet der Anblick ſeiner Fi-
guren kein ſolches Vergnuͤgen, wie dem Kenner der An-
blick ſchoͤner Gemaͤlde; aber jene ſetzen ſeine Vernunft
in Arbeit, und dieſe Arbeit iſt es, welche ihn ergoͤtzet,
und als eine afficirende Empfindung ſeinen thaͤtigen Wil-
len beweget, und ihn daher beſtimmet, ſich dieß Ver-
gnuͤgen laͤnger und mehrmalen zu verſchaffen. Wenn
die afficirenden Empfindungen von ſolchen unterſchieden
werden, die auf die Erkenntnißkraft wirken, ſo ſetzet
man das Charakteriſtiſche von ihnen darinn, daß jene
als gegenwaͤrtige Beſchaffenheiten angenehm oder wie-
drig ſind, und daher die Kraft der Seele beſtimmen,
ſolche zu unterhalten, oder zu veraͤndern; dagegen dieje-
nigen, welche nur die Vorſtellungskraft reizen, fuͤr ſich
weder gefallen noch mißfallen, ſondern nur aufgenom-
men, und abgebildet werden, welche Beſchaͤfftigung
ſelbſt angenehm oder unangenehm ſeyn kann, und andere
dergleichen Folgen veranlaſſen. Dieſe Erinnerung iſt
vielleicht uͤberfluͤßig, aber in mikroſkopiſchen Unterſuchun-
gen kann man nicht leicht allzuſcharf und allzu genau zu-
ſehen.

6.

Die empfindſamen Veraͤnderungen, und die be-
wegenden
haben den gemeinſchaftlichen Charakter, daß
ſie ſtaͤrker und verwirrter ſind, als diejenigen, auf
welche ſich die Vorſtellungskraft verwendet. Aber wenn
nun von neuen die Frage iſt, welche unter dieſen denn
vorzuͤglich die Empfindſamkeit unterhalten, und wel-
che mehr die Triebfedern fuͤr die handelnde Thaͤtigkeits-
kraft ſind, ſo deucht mich, die Beobachtungen fuͤhren
dahin, das erſtere ſey eine Folge des Angenehmen;

das
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0780" n="720"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">X.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber die Beziehung</hi></fw><lb/>
&#x017F;en &#x017F;eyn. Allein dieß i&#x017F;t es nicht, worauf es hier eigentlich<lb/>
ankommt. Die Empfindung kann deswegen, als ein<lb/>
gefu&#x0364;hlter gegenwa&#x0364;rtiger Zu&#x017F;tand, fu&#x0364;r &#x017F;ich ganz ge&#x017F;chmack-<lb/>
los &#x017F;eyn. Dem Geometer machet der Anblick &#x017F;einer Fi-<lb/>
guren kein &#x017F;olches Vergnu&#x0364;gen, wie dem Kenner der An-<lb/>
blick &#x017F;cho&#x0364;ner Gema&#x0364;lde; aber jene &#x017F;etzen &#x017F;eine Vernunft<lb/>
in Arbeit, und die&#x017F;e Arbeit i&#x017F;t es, welche ihn ergo&#x0364;tzet,<lb/>
und als eine afficirende Empfindung &#x017F;einen tha&#x0364;tigen Wil-<lb/>
len beweget, und ihn daher be&#x017F;timmet, &#x017F;ich dieß Ver-<lb/>
gnu&#x0364;gen la&#x0364;nger und mehrmalen zu ver&#x017F;chaffen. Wenn<lb/>
die afficirenden Empfindungen von &#x017F;olchen unter&#x017F;chieden<lb/>
werden, die auf die Erkenntnißkraft wirken, &#x017F;o &#x017F;etzet<lb/>
man das Charakteri&#x017F;ti&#x017F;che von ihnen darinn, daß jene<lb/>
als gegenwa&#x0364;rtige Be&#x017F;chaffenheiten angenehm oder wie-<lb/>
drig &#x017F;ind, und daher die Kraft der Seele be&#x017F;timmen,<lb/>
&#x017F;olche zu unterhalten, oder zu vera&#x0364;ndern; dagegen dieje-<lb/>
nigen, welche nur die Vor&#x017F;tellungskraft reizen, fu&#x0364;r &#x017F;ich<lb/>
weder gefallen noch mißfallen, &#x017F;ondern nur aufgenom-<lb/>
men, und abgebildet werden, welche Be&#x017F;cha&#x0364;fftigung<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t angenehm oder unangenehm &#x017F;eyn kann, und andere<lb/>
dergleichen Folgen veranla&#x017F;&#x017F;en. Die&#x017F;e Erinnerung i&#x017F;t<lb/>
vielleicht u&#x0364;berflu&#x0364;ßig, aber in mikro&#x017F;kopi&#x017F;chen Unter&#x017F;uchun-<lb/>
gen kann man nicht leicht allzu&#x017F;charf und allzu genau zu-<lb/>
&#x017F;ehen.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>6.</head><lb/>
            <p>Die <hi rendition="#fr">empfind&#x017F;amen</hi> Vera&#x0364;nderungen, und die <hi rendition="#fr">be-<lb/>
wegenden</hi> haben den gemein&#x017F;chaftlichen Charakter, daß<lb/>
&#x017F;ie <hi rendition="#fr">&#x017F;ta&#x0364;rker</hi> und <hi rendition="#fr">verwirrter</hi> &#x017F;ind, als diejenigen, auf<lb/>
welche &#x017F;ich die Vor&#x017F;tellungskraft verwendet. Aber wenn<lb/>
nun von neuen die Frage i&#x017F;t, welche unter die&#x017F;en denn<lb/>
vorzu&#x0364;glich die <hi rendition="#fr">Empfind&#x017F;amkeit</hi> unterhalten, und wel-<lb/>
che mehr die Triebfedern fu&#x0364;r die handelnde Tha&#x0364;tigkeits-<lb/>
kraft &#x017F;ind, &#x017F;o deucht mich, die Beobachtungen fu&#x0364;hren<lb/>
dahin, das er&#x017F;tere &#x017F;ey eine Folge des <hi rendition="#fr">Angenehmen;</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch">das</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[720/0780] X. Verſuch. Ueber die Beziehung ſen ſeyn. Allein dieß iſt es nicht, worauf es hier eigentlich ankommt. Die Empfindung kann deswegen, als ein gefuͤhlter gegenwaͤrtiger Zuſtand, fuͤr ſich ganz geſchmack- los ſeyn. Dem Geometer machet der Anblick ſeiner Fi- guren kein ſolches Vergnuͤgen, wie dem Kenner der An- blick ſchoͤner Gemaͤlde; aber jene ſetzen ſeine Vernunft in Arbeit, und dieſe Arbeit iſt es, welche ihn ergoͤtzet, und als eine afficirende Empfindung ſeinen thaͤtigen Wil- len beweget, und ihn daher beſtimmet, ſich dieß Ver- gnuͤgen laͤnger und mehrmalen zu verſchaffen. Wenn die afficirenden Empfindungen von ſolchen unterſchieden werden, die auf die Erkenntnißkraft wirken, ſo ſetzet man das Charakteriſtiſche von ihnen darinn, daß jene als gegenwaͤrtige Beſchaffenheiten angenehm oder wie- drig ſind, und daher die Kraft der Seele beſtimmen, ſolche zu unterhalten, oder zu veraͤndern; dagegen dieje- nigen, welche nur die Vorſtellungskraft reizen, fuͤr ſich weder gefallen noch mißfallen, ſondern nur aufgenom- men, und abgebildet werden, welche Beſchaͤfftigung ſelbſt angenehm oder unangenehm ſeyn kann, und andere dergleichen Folgen veranlaſſen. Dieſe Erinnerung iſt vielleicht uͤberfluͤßig, aber in mikroſkopiſchen Unterſuchun- gen kann man nicht leicht allzuſcharf und allzu genau zu- ſehen. 6. Die empfindſamen Veraͤnderungen, und die be- wegenden haben den gemeinſchaftlichen Charakter, daß ſie ſtaͤrker und verwirrter ſind, als diejenigen, auf welche ſich die Vorſtellungskraft verwendet. Aber wenn nun von neuen die Frage iſt, welche unter dieſen denn vorzuͤglich die Empfindſamkeit unterhalten, und wel- che mehr die Triebfedern fuͤr die handelnde Thaͤtigkeits- kraft ſind, ſo deucht mich, die Beobachtungen fuͤhren dahin, das erſtere ſey eine Folge des Angenehmen; das

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/780
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 720. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/780>, abgerufen am 22.12.2024.