Der sel. Reimarus glaubte in dem Reflexions- vermögen, oder, wie er sich erklärte, in dem Vermö- gen, Dinge in der Vorstellung gegen einander zu ver- gleichen, die eigentliche Wurzel gefunden zu haben, wor- aus des Menschen Vorzüge vor den Thieren hervor- sprießen. Diese Reflexionsfähigkeit war der Anfang der Vernunft und der wahre Grundcharakter des ver- nünftigen Menschen, von dem seine übrigen Vollkom- menheiten nur Folgen und Wirkungen sind. Jch geste- he es, ich habe schon an andern Stellen es erkläret, daß mir die Raisonnements dieses scharfsinnigen und würdi- gen Mannes über die Natur des menschlichen Verstan- des nicht eindringend genug zu seyn scheinen. Eben so kommt es mir auch hier vor. Dieß benimmt der vor- züglichen Hochachtung nichts, die ich für diesen Philo- sophen hege, und die Deutschland, wie ich glaube, im- mer für ihn hegen wird, als für einen Mann, der tiefe metaphysische Theorien mit einer ausgebreiteten Erfah- rungskenntniß verband, und jene auf diese so anwandte, wie es ihre wahre Bestimmung erfodert, um helle und feststehende Einsichten in die wirkliche Natur, in ihre Beziehung auf den Schöpfer, und in den Zusammen- hang ihrer Theile unter einander und mit den Menschen, als das schätzbarste Kleinod für den Menschenverstand, zu befördern, zu vergrößern, und auszubreiten. Was ich über den von ihm angegebenen Grundcharakter des Menschen zu erinnern habe, ist folgendes.
Ob das, was Reimarus Reflexion nennet, die erste ursprüngliche Aeußerung der Denkkraft sey, und also ein Grundvermögen in Hinsicht des Verstandes und der Vernunft darstelle, will ich hier nicht untersuchen, und verweise auf die obigen Betrachtungen über das Ge- wahrnehmen und über die Denkkraft. Aber ist denn
völlig
XI. Verſuch. Ueber die Grundkraft
4.
Der ſel. Reimarus glaubte in dem Reflexions- vermoͤgen, oder, wie er ſich erklaͤrte, in dem Vermoͤ- gen, Dinge in der Vorſtellung gegen einander zu ver- gleichen, die eigentliche Wurzel gefunden zu haben, wor- aus des Menſchen Vorzuͤge vor den Thieren hervor- ſprießen. Dieſe Reflexionsfaͤhigkeit war der Anfang der Vernunft und der wahre Grundcharakter des ver- nuͤnftigen Menſchen, von dem ſeine uͤbrigen Vollkom- menheiten nur Folgen und Wirkungen ſind. Jch geſte- he es, ich habe ſchon an andern Stellen es erklaͤret, daß mir die Raiſonnements dieſes ſcharfſinnigen und wuͤrdi- gen Mannes uͤber die Natur des menſchlichen Verſtan- des nicht eindringend genug zu ſeyn ſcheinen. Eben ſo kommt es mir auch hier vor. Dieß benimmt der vor- zuͤglichen Hochachtung nichts, die ich fuͤr dieſen Philo- ſophen hege, und die Deutſchland, wie ich glaube, im- mer fuͤr ihn hegen wird, als fuͤr einen Mann, der tiefe metaphyſiſche Theorien mit einer ausgebreiteten Erfah- rungskenntniß verband, und jene auf dieſe ſo anwandte, wie es ihre wahre Beſtimmung erfodert, um helle und feſtſtehende Einſichten in die wirkliche Natur, in ihre Beziehung auf den Schoͤpfer, und in den Zuſammen- hang ihrer Theile unter einander und mit den Menſchen, als das ſchaͤtzbarſte Kleinod fuͤr den Menſchenverſtand, zu befoͤrdern, zu vergroͤßern, und auszubreiten. Was ich uͤber den von ihm angegebenen Grundcharakter des Menſchen zu erinnern habe, iſt folgendes.
Ob das, was Reimarus Reflexion nennet, die erſte urſpruͤngliche Aeußerung der Denkkraft ſey, und alſo ein Grundvermoͤgen in Hinſicht des Verſtandes und der Vernunft darſtelle, will ich hier nicht unterſuchen, und verweiſe auf die obigen Betrachtungen uͤber das Ge- wahrnehmen und uͤber die Denkkraft. Aber iſt denn
voͤllig
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0804"n="744"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">XI.</hi> Verſuch. Ueber die Grundkraft</hi></fw><lb/><divn="3"><head>4.</head><lb/><p>Der ſel. <hirendition="#fr">Reimarus</hi> glaubte in dem <hirendition="#fr">Reflexions-<lb/>
vermoͤgen,</hi> oder, wie er ſich erklaͤrte, in dem Vermoͤ-<lb/>
gen, Dinge in der Vorſtellung gegen einander zu ver-<lb/>
gleichen, die eigentliche Wurzel gefunden zu haben, wor-<lb/>
aus des Menſchen Vorzuͤge vor den Thieren hervor-<lb/>ſprießen. Dieſe Reflexionsfaͤhigkeit war der Anfang<lb/>
der Vernunft und der wahre Grundcharakter des ver-<lb/>
nuͤnftigen Menſchen, von dem ſeine uͤbrigen Vollkom-<lb/>
menheiten nur Folgen und Wirkungen ſind. Jch geſte-<lb/>
he es, ich habe ſchon an andern Stellen es erklaͤret, daß<lb/>
mir die Raiſonnements dieſes ſcharfſinnigen und wuͤrdi-<lb/>
gen Mannes uͤber die Natur des menſchlichen Verſtan-<lb/>
des nicht eindringend genug zu ſeyn ſcheinen. Eben ſo<lb/>
kommt es mir auch hier vor. Dieß benimmt der vor-<lb/>
zuͤglichen Hochachtung nichts, die ich fuͤr dieſen Philo-<lb/>ſophen hege, und die Deutſchland, wie ich glaube, im-<lb/>
mer fuͤr ihn hegen wird, als fuͤr einen Mann, der tiefe<lb/>
metaphyſiſche Theorien mit einer ausgebreiteten Erfah-<lb/>
rungskenntniß verband, und jene auf dieſe ſo anwandte,<lb/>
wie es ihre wahre Beſtimmung erfodert, um helle und<lb/>
feſtſtehende Einſichten in die wirkliche Natur, in ihre<lb/>
Beziehung auf den Schoͤpfer, und in den Zuſammen-<lb/>
hang ihrer Theile unter einander und mit den Menſchen,<lb/>
als das ſchaͤtzbarſte Kleinod fuͤr den Menſchenverſtand,<lb/>
zu befoͤrdern, zu vergroͤßern, und auszubreiten. Was<lb/>
ich uͤber den von ihm angegebenen Grundcharakter des<lb/>
Menſchen zu erinnern habe, iſt folgendes.</p><lb/><p>Ob das, was <hirendition="#fr">Reimarus Reflexion</hi> nennet, die<lb/>
erſte urſpruͤngliche Aeußerung der Denkkraft ſey, und<lb/>
alſo ein Grundvermoͤgen in Hinſicht des Verſtandes und<lb/>
der Vernunft darſtelle, will ich hier nicht unterſuchen,<lb/>
und verweiſe auf die obigen Betrachtungen uͤber das Ge-<lb/>
wahrnehmen und uͤber die Denkkraft. Aber iſt denn<lb/><fwplace="bottom"type="catch">voͤllig</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[744/0804]
XI. Verſuch. Ueber die Grundkraft
4.
Der ſel. Reimarus glaubte in dem Reflexions-
vermoͤgen, oder, wie er ſich erklaͤrte, in dem Vermoͤ-
gen, Dinge in der Vorſtellung gegen einander zu ver-
gleichen, die eigentliche Wurzel gefunden zu haben, wor-
aus des Menſchen Vorzuͤge vor den Thieren hervor-
ſprießen. Dieſe Reflexionsfaͤhigkeit war der Anfang
der Vernunft und der wahre Grundcharakter des ver-
nuͤnftigen Menſchen, von dem ſeine uͤbrigen Vollkom-
menheiten nur Folgen und Wirkungen ſind. Jch geſte-
he es, ich habe ſchon an andern Stellen es erklaͤret, daß
mir die Raiſonnements dieſes ſcharfſinnigen und wuͤrdi-
gen Mannes uͤber die Natur des menſchlichen Verſtan-
des nicht eindringend genug zu ſeyn ſcheinen. Eben ſo
kommt es mir auch hier vor. Dieß benimmt der vor-
zuͤglichen Hochachtung nichts, die ich fuͤr dieſen Philo-
ſophen hege, und die Deutſchland, wie ich glaube, im-
mer fuͤr ihn hegen wird, als fuͤr einen Mann, der tiefe
metaphyſiſche Theorien mit einer ausgebreiteten Erfah-
rungskenntniß verband, und jene auf dieſe ſo anwandte,
wie es ihre wahre Beſtimmung erfodert, um helle und
feſtſtehende Einſichten in die wirkliche Natur, in ihre
Beziehung auf den Schoͤpfer, und in den Zuſammen-
hang ihrer Theile unter einander und mit den Menſchen,
als das ſchaͤtzbarſte Kleinod fuͤr den Menſchenverſtand,
zu befoͤrdern, zu vergroͤßern, und auszubreiten. Was
ich uͤber den von ihm angegebenen Grundcharakter des
Menſchen zu erinnern habe, iſt folgendes.
Ob das, was Reimarus Reflexion nennet, die
erſte urſpruͤngliche Aeußerung der Denkkraft ſey, und
alſo ein Grundvermoͤgen in Hinſicht des Verſtandes und
der Vernunft darſtelle, will ich hier nicht unterſuchen,
und verweiſe auf die obigen Betrachtungen uͤber das Ge-
wahrnehmen und uͤber die Denkkraft. Aber iſt denn
voͤllig
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 744. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/804>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.