Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XI. Versuch. Ueber die Grundkraft
mer erfodert, wird man nicht leicht etwas finden, was
mit dem Gedanken nicht bestehen könnte, daß alles aus
einer Verschiedenheit der Grade und Stufen und Quan-
titäten in den absoluten Grundkräften begreiflich sey, und
daß der Unterschied dennoch eben so natürlich nothwendig
und wesentlich seyn könne, als sie nach den Beobachtun-
gen angenommen werden muß.

Wollte Reimarus die Reflexion selbst für den Ver-
stand und Vernunft angesehn wissen, wie solche in unse-
rer Seele in dieser Gestalt erkennbar ist, so sagte er
nichts, als was alle vorhergehende Philosophen auch
gesagt hatten, welche die Vernunftfähigkeit zum Cha-
rakter des Menschen gemacht. Der Mensch besitzt Ver-
nunft, wie kein Thier sie besitzt. Dieß ist also der
Charakter der Menschheit; aber worinn bestehet diese
Anlage? wozu und in welcher Grundbeschaffenheit hat
sie ihre Wurzel? Jst sie selbst nicht eine Folge einer
gewissen Einrichtung ihrer Natur? Und dieser Grund-
charakter ist es, den man aufsuchet.

Doch der scharfsinnige Mann blieb auch in der That
hiebey nicht stehen. Er drang noch tiefer in den Grund-
charakter hinein, als er in dem Weniger und Mehr
bestimmt seyn der Grundkraft,
den Grund des Un-
terschiedes zwischen Menschen- und Thierseelen aufsuchte.
Die Menschenseelen hielt er für weniger bestimmte,
allgemeine, zu mehreren Wirkungsarten aufgelegte We-
sen; die Thierseelen hingegen für mehr und genauer auf
gewisse Wirksamkeitsarten eingeschränkt. Da ein jed-
wedes wirkliches Ding nach der sonstigen Sprache der
Philosophen völlig allseitig und durchaus bestimmt ist,
so möchte seine eigene Art, des Worts Determination
sich zu bedienen, wohl die Ursache seyn, die seinen Aus-
druck undeutlich machte und Mißverständnisse veranlaßte.

Jndessen

XI. Verſuch. Ueber die Grundkraft
mer erfodert, wird man nicht leicht etwas finden, was
mit dem Gedanken nicht beſtehen koͤnnte, daß alles aus
einer Verſchiedenheit der Grade und Stufen und Quan-
titaͤten in den abſoluten Grundkraͤften begreiflich ſey, und
daß der Unterſchied dennoch eben ſo natuͤrlich nothwendig
und weſentlich ſeyn koͤnne, als ſie nach den Beobachtun-
gen angenommen werden muß.

Wollte Reimarus die Reflexion ſelbſt fuͤr den Ver-
ſtand und Vernunft angeſehn wiſſen, wie ſolche in unſe-
rer Seele in dieſer Geſtalt erkennbar iſt, ſo ſagte er
nichts, als was alle vorhergehende Philoſophen auch
geſagt hatten, welche die Vernunftfaͤhigkeit zum Cha-
rakter des Menſchen gemacht. Der Menſch beſitzt Ver-
nunft, wie kein Thier ſie beſitzt. Dieß iſt alſo der
Charakter der Menſchheit; aber worinn beſtehet dieſe
Anlage? wozu und in welcher Grundbeſchaffenheit hat
ſie ihre Wurzel? Jſt ſie ſelbſt nicht eine Folge einer
gewiſſen Einrichtung ihrer Natur? Und dieſer Grund-
charakter iſt es, den man aufſuchet.

Doch der ſcharfſinnige Mann blieb auch in der That
hiebey nicht ſtehen. Er drang noch tiefer in den Grund-
charakter hinein, als er in dem Weniger und Mehr
beſtimmt ſeyn der Grundkraft,
den Grund des Un-
terſchiedes zwiſchen Menſchen- und Thierſeelen aufſuchte.
Die Menſchenſeelen hielt er fuͤr weniger beſtimmte,
allgemeine, zu mehreren Wirkungsarten aufgelegte We-
ſen; die Thierſeelen hingegen fuͤr mehr und genauer auf
gewiſſe Wirkſamkeitsarten eingeſchraͤnkt. Da ein jed-
wedes wirkliches Ding nach der ſonſtigen Sprache der
Philoſophen voͤllig allſeitig und durchaus beſtimmt iſt,
ſo moͤchte ſeine eigene Art, des Worts Determination
ſich zu bedienen, wohl die Urſache ſeyn, die ſeinen Aus-
druck undeutlich machte und Mißverſtaͤndniſſe veranlaßte.

Jndeſſen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0806" n="746"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XI.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber die Grundkraft</hi></fw><lb/>
mer erfodert, wird man nicht leicht etwas finden, was<lb/>
mit dem Gedanken nicht be&#x017F;tehen ko&#x0364;nnte, daß alles aus<lb/>
einer Ver&#x017F;chiedenheit der Grade und Stufen und Quan-<lb/>
tita&#x0364;ten in den ab&#x017F;oluten Grundkra&#x0364;ften begreiflich &#x017F;ey, und<lb/>
daß der Unter&#x017F;chied dennoch eben &#x017F;o natu&#x0364;rlich nothwendig<lb/>
und we&#x017F;entlich &#x017F;eyn ko&#x0364;nne, als &#x017F;ie nach den Beobachtun-<lb/>
gen angenommen werden muß.</p><lb/>
            <p>Wollte Reimarus die Reflexion &#x017F;elb&#x017F;t fu&#x0364;r den Ver-<lb/>
&#x017F;tand und Vernunft ange&#x017F;ehn wi&#x017F;&#x017F;en, wie &#x017F;olche in un&#x017F;e-<lb/>
rer Seele in die&#x017F;er Ge&#x017F;talt erkennbar i&#x017F;t, &#x017F;o &#x017F;agte er<lb/>
nichts, als was alle vorhergehende Philo&#x017F;ophen auch<lb/>
ge&#x017F;agt hatten, welche die Vernunftfa&#x0364;higkeit zum Cha-<lb/>
rakter des Men&#x017F;chen gemacht. Der Men&#x017F;ch be&#x017F;itzt Ver-<lb/>
nunft, wie kein Thier &#x017F;ie be&#x017F;itzt. Dieß i&#x017F;t al&#x017F;o der<lb/>
Charakter der Men&#x017F;chheit; aber worinn be&#x017F;tehet die&#x017F;e<lb/>
Anlage? wozu und in welcher Grundbe&#x017F;chaffenheit hat<lb/>
&#x017F;ie ihre Wurzel? J&#x017F;t &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t nicht eine Folge einer<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;en Einrichtung ihrer Natur? Und die&#x017F;er Grund-<lb/>
charakter i&#x017F;t es, den man auf&#x017F;uchet.</p><lb/>
            <p>Doch der &#x017F;charf&#x017F;innige Mann blieb auch in der That<lb/>
hiebey nicht &#x017F;tehen. Er drang noch tiefer in den Grund-<lb/>
charakter hinein, als er in dem <hi rendition="#fr">Weniger</hi> und <hi rendition="#fr">Mehr<lb/>
be&#x017F;timmt &#x017F;eyn der Grundkraft,</hi> den Grund des Un-<lb/>
ter&#x017F;chiedes zwi&#x017F;chen Men&#x017F;chen- und Thier&#x017F;eelen auf&#x017F;uchte.<lb/>
Die Men&#x017F;chen&#x017F;eelen hielt er fu&#x0364;r <hi rendition="#fr">weniger be&#x017F;timmte,</hi><lb/>
allgemeine, zu mehreren Wirkungsarten aufgelegte We-<lb/>
&#x017F;en; die Thier&#x017F;eelen hingegen fu&#x0364;r <hi rendition="#fr">mehr</hi> und genauer auf<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;e Wirk&#x017F;amkeitsarten einge&#x017F;chra&#x0364;nkt. Da ein jed-<lb/>
wedes wirkliches Ding nach der &#x017F;on&#x017F;tigen Sprache der<lb/>
Philo&#x017F;ophen <hi rendition="#fr">vo&#x0364;llig</hi> all&#x017F;eitig und durchaus <hi rendition="#fr">be&#x017F;timmt i&#x017F;t,</hi><lb/>
&#x017F;o mo&#x0364;chte &#x017F;eine eigene Art, des Worts <hi rendition="#fr">Determination</hi><lb/>
&#x017F;ich zu bedienen, wohl die Ur&#x017F;ache &#x017F;eyn, die &#x017F;einen Aus-<lb/>
druck undeutlich machte und Mißver&#x017F;ta&#x0364;ndni&#x017F;&#x017F;e veranlaßte.<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Jnde&#x017F;&#x017F;en</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[746/0806] XI. Verſuch. Ueber die Grundkraft mer erfodert, wird man nicht leicht etwas finden, was mit dem Gedanken nicht beſtehen koͤnnte, daß alles aus einer Verſchiedenheit der Grade und Stufen und Quan- titaͤten in den abſoluten Grundkraͤften begreiflich ſey, und daß der Unterſchied dennoch eben ſo natuͤrlich nothwendig und weſentlich ſeyn koͤnne, als ſie nach den Beobachtun- gen angenommen werden muß. Wollte Reimarus die Reflexion ſelbſt fuͤr den Ver- ſtand und Vernunft angeſehn wiſſen, wie ſolche in unſe- rer Seele in dieſer Geſtalt erkennbar iſt, ſo ſagte er nichts, als was alle vorhergehende Philoſophen auch geſagt hatten, welche die Vernunftfaͤhigkeit zum Cha- rakter des Menſchen gemacht. Der Menſch beſitzt Ver- nunft, wie kein Thier ſie beſitzt. Dieß iſt alſo der Charakter der Menſchheit; aber worinn beſtehet dieſe Anlage? wozu und in welcher Grundbeſchaffenheit hat ſie ihre Wurzel? Jſt ſie ſelbſt nicht eine Folge einer gewiſſen Einrichtung ihrer Natur? Und dieſer Grund- charakter iſt es, den man aufſuchet. Doch der ſcharfſinnige Mann blieb auch in der That hiebey nicht ſtehen. Er drang noch tiefer in den Grund- charakter hinein, als er in dem Weniger und Mehr beſtimmt ſeyn der Grundkraft, den Grund des Un- terſchiedes zwiſchen Menſchen- und Thierſeelen aufſuchte. Die Menſchenſeelen hielt er fuͤr weniger beſtimmte, allgemeine, zu mehreren Wirkungsarten aufgelegte We- ſen; die Thierſeelen hingegen fuͤr mehr und genauer auf gewiſſe Wirkſamkeitsarten eingeſchraͤnkt. Da ein jed- wedes wirkliches Ding nach der ſonſtigen Sprache der Philoſophen voͤllig allſeitig und durchaus beſtimmt iſt, ſo moͤchte ſeine eigene Art, des Worts Determination ſich zu bedienen, wohl die Urſache ſeyn, die ſeinen Aus- druck undeutlich machte und Mißverſtaͤndniſſe veranlaßte. Jndeſſen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/806
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 1. Leipzig, 1777, S. 746. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche01_1777/806>, abgerufen am 22.12.2024.