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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XII. Versuch. Ueber die Selbstthätigkeit
mir nicht; aber ich fühle und weiß es, daß ich doch das
ungekränkte Vermögen besitze, jetzo die Feder wegzu-
legen, und meine thätige Kraft anderswohin zu lenken.
Oder soll man nichts thun können, was man nicht
wirklich thut? Was nicht anders geschieht, das sollte
auch nicht anders geschehen können? Einige haben
wirklich in den metaphysischen Spekulationen sich dahin
verloren, daß sie endlich Seyn und Seyn können,
Werden
und Werden können, für einerley angese-
hen, weil sie die Gränzen dieser beiden so auffallend un-
terschiedenen Grundbegriffe nicht recht festzuhalten wuß-
ten. Und ohne Zweifel war die Verwechselung dieser
beiden Begriffe, die oft sowohl in der philosophischen
Sprache, als in dem gemeinen Ausdruck vorkommt,
eine große Veranlassung darzu. Was nicht ist, was
gewiß und sicher nicht ist, wird oft so ausgedruckt,
daß es nicht seyn könne; und von dem, was ge-
wiß ist,
sagen wir oft: es ist nothwendig. Um
alle Verwirrung in den Gedanken zu heben, muß solche
auch allerdings in der Sprache gehoben werden.
Leibnitz sagte mit Recht: ohne zureichenden Grund
geschieht nichts. Aber wer hat die Philosophen be-
rechtigt zu sagen: ohne zureichenden Grund könne
nichts geschehen. So wenig daraus, daß etwas nur
seyn kann, gefolgert werden darf, daß es wirklich
sey;
eben so wenig darf daraus, daß etwas nicht ge-
schieht,
geschlossen werden, daß es nicht geschehen
könne.
Wenn nun etwas keinen zureichenden Grund
hat, und also nicht geschieht, wie kann man schließen,
es könne auch nicht geschehen. Fällt denn mit dem
Grunde der Wirklichkeit auch der Grund der
Möglichkeit,
mit der wirklichen Anwendung eines
Vermögens auch das Vermögen selbst weg.

Der Jndeterminist ist mit keiner Möglichkeit des
Gegentheils, und also mit keiner Zufälligkeit der

Sa-

XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
mir nicht; aber ich fuͤhle und weiß es, daß ich doch das
ungekraͤnkte Vermoͤgen beſitze, jetzo die Feder wegzu-
legen, und meine thaͤtige Kraft anderswohin zu lenken.
Oder ſoll man nichts thun koͤnnen, was man nicht
wirklich thut? Was nicht anders geſchieht, das ſollte
auch nicht anders geſchehen koͤnnen? Einige haben
wirklich in den metaphyſiſchen Spekulationen ſich dahin
verloren, daß ſie endlich Seyn und Seyn koͤnnen,
Werden
und Werden koͤnnen, fuͤr einerley angeſe-
hen, weil ſie die Graͤnzen dieſer beiden ſo auffallend un-
terſchiedenen Grundbegriffe nicht recht feſtzuhalten wuß-
ten. Und ohne Zweifel war die Verwechſelung dieſer
beiden Begriffe, die oft ſowohl in der philoſophiſchen
Sprache, als in dem gemeinen Ausdruck vorkommt,
eine große Veranlaſſung darzu. Was nicht iſt, was
gewiß und ſicher nicht iſt, wird oft ſo ausgedruckt,
daß es nicht ſeyn koͤnne; und von dem, was ge-
wiß iſt,
ſagen wir oft: es iſt nothwendig. Um
alle Verwirrung in den Gedanken zu heben, muß ſolche
auch allerdings in der Sprache gehoben werden.
Leibnitz ſagte mit Recht: ohne zureichenden Grund
geſchieht nichts. Aber wer hat die Philoſophen be-
rechtigt zu ſagen: ohne zureichenden Grund koͤnne
nichts geſchehen. So wenig daraus, daß etwas nur
ſeyn kann, gefolgert werden darf, daß es wirklich
ſey;
eben ſo wenig darf daraus, daß etwas nicht ge-
ſchieht,
geſchloſſen werden, daß es nicht geſchehen
koͤnne.
Wenn nun etwas keinen zureichenden Grund
hat, und alſo nicht geſchieht, wie kann man ſchließen,
es koͤnne auch nicht geſchehen. Faͤllt denn mit dem
Grunde der Wirklichkeit auch der Grund der
Moͤglichkeit,
mit der wirklichen Anwendung eines
Vermoͤgens auch das Vermoͤgen ſelbſt weg.

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Gegentheils, und alſo mit keiner Zufaͤlligkeit der

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[144/0174] XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit mir nicht; aber ich fuͤhle und weiß es, daß ich doch das ungekraͤnkte Vermoͤgen beſitze, jetzo die Feder wegzu- legen, und meine thaͤtige Kraft anderswohin zu lenken. Oder ſoll man nichts thun koͤnnen, was man nicht wirklich thut? Was nicht anders geſchieht, das ſollte auch nicht anders geſchehen koͤnnen? Einige haben wirklich in den metaphyſiſchen Spekulationen ſich dahin verloren, daß ſie endlich Seyn und Seyn koͤnnen, Werden und Werden koͤnnen, fuͤr einerley angeſe- hen, weil ſie die Graͤnzen dieſer beiden ſo auffallend un- terſchiedenen Grundbegriffe nicht recht feſtzuhalten wuß- ten. Und ohne Zweifel war die Verwechſelung dieſer beiden Begriffe, die oft ſowohl in der philoſophiſchen Sprache, als in dem gemeinen Ausdruck vorkommt, eine große Veranlaſſung darzu. Was nicht iſt, was gewiß und ſicher nicht iſt, wird oft ſo ausgedruckt, daß es nicht ſeyn koͤnne; und von dem, was ge- wiß iſt, ſagen wir oft: es iſt nothwendig. Um alle Verwirrung in den Gedanken zu heben, muß ſolche auch allerdings in der Sprache gehoben werden. Leibnitz ſagte mit Recht: ohne zureichenden Grund geſchieht nichts. Aber wer hat die Philoſophen be- rechtigt zu ſagen: ohne zureichenden Grund koͤnne nichts geſchehen. So wenig daraus, daß etwas nur ſeyn kann, gefolgert werden darf, daß es wirklich ſey; eben ſo wenig darf daraus, daß etwas nicht ge- ſchieht, geſchloſſen werden, daß es nicht geſchehen koͤnne. Wenn nun etwas keinen zureichenden Grund hat, und alſo nicht geſchieht, wie kann man ſchließen, es koͤnne auch nicht geſchehen. Faͤllt denn mit dem Grunde der Wirklichkeit auch der Grund der Moͤglichkeit, mit der wirklichen Anwendung eines Vermoͤgens auch das Vermoͤgen ſelbſt weg. Der Jndeterminiſt iſt mit keiner Moͤglichkeit des Gegentheils, und alſo mit keiner Zufaͤlligkeit der Sa-

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/174>, abgerufen am 26.11.2024.