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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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im Menschen.
gelegentlich aufgefaßt, die sie in der Folge so ganz ver-
gessen, daß es ihnen kaum einmal erinnerlich gewesen
ist, jemals dergleichen Unterricht gehabt zu haben.
Nach vielen Jahren sind jene alten, für ausgetilget und
erloschen gehaltene Bilder in einer hitzigen Krankheit
wieder lebhaft erneuert worden, und alsdenn haben sol-
che Leute, dem Scheine nach, eine Sprache geredet, die
sie niemals erlernet hatten, und denn zuweilen das
Schicksal gehabt, für Besessene erklärt zu werden.
Diese Beyspiele beweisen meiner Meinung nach, was
sich auch wohl aus andern Beobachtungen, obgleich
nicht so auffallend, zeigen läßt, daß Vorstellungen, auf
welche die Seele, in dem ordentlichen gesunden Zustande
des Körpers, mit aller Anstrengung sich nicht besinnen
konnte, dennoch das Eigene, was sie zu solchen Vor-
stellungen machte, nicht so gänzlich verloren hatten, daß
sie nicht bey außerordentlichen Anlässen wieder reprodu-
ciret werden konnten. Zu den übrigen Erfahrungen,
die dasselbige bestätigen, gehöret auch noch die lebhafte
Wiedererinnerung an längst vergangene Dinge, aus der
Jugend her, die man bey alten Leuten antrifft. Ein
mir bekannter Mann mochte in dreyßig und mehr
Jahren an die Regeln im Donat nicht gedacht haben,
und vor zwanzig Jahren nicht mehr im Stande gewesen
seyn, sie wörtlich herzusagen; aber im Alter, als das
Gedächtniß neuerer Dinge geschwächt war, wußte er
das in der Jugend auswendig gelernte Schulbuch größ-
stentheils wörtlich herzusagen. Sind die Spuren aber
so unauslöschlich, so sehe ich nicht, wie man diese Fort-
dauer der Vorstellungen besser begreife, wenn man ih-
nen ihren Sitz in dem Gehirn anweiset, als wenn sie in
der Seele als in ihrem Subjekte sind.

Wir kennen das Gesetz der Organisation, nach wel-
chem die Körper fester und unbiegsamer werden, wenn
sie aufgehört haben, ihren äußern Umfang zu erweitern.

Wenn

im Menſchen.
gelegentlich aufgefaßt, die ſie in der Folge ſo ganz ver-
geſſen, daß es ihnen kaum einmal erinnerlich geweſen
iſt, jemals dergleichen Unterricht gehabt zu haben.
Nach vielen Jahren ſind jene alten, fuͤr ausgetilget und
erloſchen gehaltene Bilder in einer hitzigen Krankheit
wieder lebhaft erneuert worden, und alsdenn haben ſol-
che Leute, dem Scheine nach, eine Sprache geredet, die
ſie niemals erlernet hatten, und denn zuweilen das
Schickſal gehabt, fuͤr Beſeſſene erklaͤrt zu werden.
Dieſe Beyſpiele beweiſen meiner Meinung nach, was
ſich auch wohl aus andern Beobachtungen, obgleich
nicht ſo auffallend, zeigen laͤßt, daß Vorſtellungen, auf
welche die Seele, in dem ordentlichen geſunden Zuſtande
des Koͤrpers, mit aller Anſtrengung ſich nicht beſinnen
konnte, dennoch das Eigene, was ſie zu ſolchen Vor-
ſtellungen machte, nicht ſo gaͤnzlich verloren hatten, daß
ſie nicht bey außerordentlichen Anlaͤſſen wieder reprodu-
ciret werden konnten. Zu den uͤbrigen Erfahrungen,
die daſſelbige beſtaͤtigen, gehoͤret auch noch die lebhafte
Wiedererinnerung an laͤngſt vergangene Dinge, aus der
Jugend her, die man bey alten Leuten antrifft. Ein
mir bekannter Mann mochte in dreyßig und mehr
Jahren an die Regeln im Donat nicht gedacht haben,
und vor zwanzig Jahren nicht mehr im Stande geweſen
ſeyn, ſie woͤrtlich herzuſagen; aber im Alter, als das
Gedaͤchtniß neuerer Dinge geſchwaͤcht war, wußte er
das in der Jugend auswendig gelernte Schulbuch groͤß-
ſtentheils woͤrtlich herzuſagen. Sind die Spuren aber
ſo unausloͤſchlich, ſo ſehe ich nicht, wie man dieſe Fort-
dauer der Vorſtellungen beſſer begreife, wenn man ih-
nen ihren Sitz in dem Gehirn anweiſet, als wenn ſie in
der Seele als in ihrem Subjekte ſind.

Wir kennen das Geſetz der Organiſation, nach wel-
chem die Koͤrper feſter und unbiegſamer werden, wenn
ſie aufgehoͤrt haben, ihren aͤußern Umfang zu erweitern.

Wenn
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[267/0297] im Menſchen. gelegentlich aufgefaßt, die ſie in der Folge ſo ganz ver- geſſen, daß es ihnen kaum einmal erinnerlich geweſen iſt, jemals dergleichen Unterricht gehabt zu haben. Nach vielen Jahren ſind jene alten, fuͤr ausgetilget und erloſchen gehaltene Bilder in einer hitzigen Krankheit wieder lebhaft erneuert worden, und alsdenn haben ſol- che Leute, dem Scheine nach, eine Sprache geredet, die ſie niemals erlernet hatten, und denn zuweilen das Schickſal gehabt, fuͤr Beſeſſene erklaͤrt zu werden. Dieſe Beyſpiele beweiſen meiner Meinung nach, was ſich auch wohl aus andern Beobachtungen, obgleich nicht ſo auffallend, zeigen laͤßt, daß Vorſtellungen, auf welche die Seele, in dem ordentlichen geſunden Zuſtande des Koͤrpers, mit aller Anſtrengung ſich nicht beſinnen konnte, dennoch das Eigene, was ſie zu ſolchen Vor- ſtellungen machte, nicht ſo gaͤnzlich verloren hatten, daß ſie nicht bey außerordentlichen Anlaͤſſen wieder reprodu- ciret werden konnten. Zu den uͤbrigen Erfahrungen, die daſſelbige beſtaͤtigen, gehoͤret auch noch die lebhafte Wiedererinnerung an laͤngſt vergangene Dinge, aus der Jugend her, die man bey alten Leuten antrifft. Ein mir bekannter Mann mochte in dreyßig und mehr Jahren an die Regeln im Donat nicht gedacht haben, und vor zwanzig Jahren nicht mehr im Stande geweſen ſeyn, ſie woͤrtlich herzuſagen; aber im Alter, als das Gedaͤchtniß neuerer Dinge geſchwaͤcht war, wußte er das in der Jugend auswendig gelernte Schulbuch groͤß- ſtentheils woͤrtlich herzuſagen. Sind die Spuren aber ſo unausloͤſchlich, ſo ſehe ich nicht, wie man dieſe Fort- dauer der Vorſtellungen beſſer begreife, wenn man ih- nen ihren Sitz in dem Gehirn anweiſet, als wenn ſie in der Seele als in ihrem Subjekte ſind. Wir kennen das Geſetz der Organiſation, nach wel- chem die Koͤrper feſter und unbiegſamer werden, wenn ſie aufgehoͤrt haben, ihren aͤußern Umfang zu erweitern. Wenn

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/297>, abgerufen am 23.11.2024.