Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.XIII. Versuch. Ueber das Seelenwesen sen Einbildung zugeschrieben werden müsse. Jnglei-chen, wenn man einer ekelhaften und empfindsamen Per- son es saget, das Fleisch, welches sie gegessen habe, sey Hundefleisch gewesen, wie es wirklich nicht gewesen ist: so wird man Anwandlungen von Uebelkeiten bey ihr se- hen, die ihre Ursachen nur in der Phantasie haben kön- nen. Wenn ein Mensch von Brodkrumen, die man ihm in der Gestalt der Pillen gegeben hat, purgirt, und ein Hund, der vor Kälte zittert, sich des Abends in den Mondschein hinleget, und nun Haut und Glieder stille hält, als ob er die Sonnenwärme empfände: so haben wir hier solche Beobachtungen, die es evident machen, daß die Kraft der Seele dasselbige vermöge, was son- sten die organische Kraft der Nerven verrichtet. Diese Macht der Einbildungskraft äußert sich am stärksten bey Personen von gar zu großer Lebhaftigkeit, und be- sonders bey denen, die mit Nervenkrankheiten behaftet sind; daher die Charletans in ihren Wunderkuren bey diesen Leuten am glücklichsten sind, so wie überhaupt bey dem gemeinen Haufen, der seiner Phantasie sich ohne Einschränkung überläßt, wenn sie einmal aus ihrer na- türlichen Gränze heraus ist. Und alsdenn erfahren sol- che Personen reelle Wirkungen einer wahren physischen Kraft, die in der Seele lieget, welche bey andern stär- ker überlegenden Personen, die ihre Phantasie zurückhal- ten, nicht erfolgen. Der gute Glaube hilft den Kranken, wie eine Arzeney. Daher man sich nicht wundern darf, daß sie sich auf ihre Empfindung mit dem stärksten Be- wußtseyn berufen. Es giebt ganze Zeitalter und Län- der, die für dergleichen Wirkungen der Phantasie em- pfänglicher sind, als andere. Aber genauer alle diese Erfahrungen angesehen, so wird man bey den mehresten es bald aus den Folgen unterscheiden können, ob es die na- türliche körperliche Ursache oder nur ihre Stellvertre- terin, die Einbildung, ob eine wahre Arzney oder die Phan-
XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen ſen Einbildung zugeſchrieben werden muͤſſe. Jnglei-chen, wenn man einer ekelhaften und empfindſamen Per- ſon es ſaget, das Fleiſch, welches ſie gegeſſen habe, ſey Hundefleiſch geweſen, wie es wirklich nicht geweſen iſt: ſo wird man Anwandlungen von Uebelkeiten bey ihr ſe- hen, die ihre Urſachen nur in der Phantaſie haben koͤn- nen. Wenn ein Menſch von Brodkrumen, die man ihm in der Geſtalt der Pillen gegeben hat, purgirt, und ein Hund, der vor Kaͤlte zittert, ſich des Abends in den Mondſchein hinleget, und nun Haut und Glieder ſtille haͤlt, als ob er die Sonnenwaͤrme empfaͤnde: ſo haben wir hier ſolche Beobachtungen, die es evident machen, daß die Kraft der Seele daſſelbige vermoͤge, was ſon- ſten die organiſche Kraft der Nerven verrichtet. Dieſe Macht der Einbildungskraft aͤußert ſich am ſtaͤrkſten bey Perſonen von gar zu großer Lebhaftigkeit, und be- ſonders bey denen, die mit Nervenkrankheiten behaftet ſind; daher die Charletans in ihren Wunderkuren bey dieſen Leuten am gluͤcklichſten ſind, ſo wie uͤberhaupt bey dem gemeinen Haufen, der ſeiner Phantaſie ſich ohne Einſchraͤnkung uͤberlaͤßt, wenn ſie einmal aus ihrer na- tuͤrlichen Graͤnze heraus iſt. Und alsdenn erfahren ſol- che Perſonen reelle Wirkungen einer wahren phyſiſchen Kraft, die in der Seele lieget, welche bey andern ſtaͤr- ker uͤberlegenden Perſonen, die ihre Phantaſie zuruͤckhal- ten, nicht erfolgen. Der gute Glaube hilft den Kranken, wie eine Arzeney. Daher man ſich nicht wundern darf, daß ſie ſich auf ihre Empfindung mit dem ſtaͤrkſten Be- wußtſeyn berufen. Es giebt ganze Zeitalter und Laͤn- der, die fuͤr dergleichen Wirkungen der Phantaſie em- pfaͤnglicher ſind, als andere. Aber genauer alle dieſe Erfahrungen angeſehen, ſo wird man bey den mehreſten es bald aus den Folgen unterſcheiden koͤnnen, ob es die na- tuͤrliche koͤrperliche Urſache oder nur ihre Stellvertre- terin, die Einbildung, ob eine wahre Arzney oder die Phan-
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XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
ſen Einbildung zugeſchrieben werden muͤſſe. Jnglei-
chen, wenn man einer ekelhaften und empfindſamen Per-
ſon es ſaget, das Fleiſch, welches ſie gegeſſen habe, ſey
Hundefleiſch geweſen, wie es wirklich nicht geweſen iſt:
ſo wird man Anwandlungen von Uebelkeiten bey ihr ſe-
hen, die ihre Urſachen nur in der Phantaſie haben koͤn-
nen. Wenn ein Menſch von Brodkrumen, die man
ihm in der Geſtalt der Pillen gegeben hat, purgirt, und
ein Hund, der vor Kaͤlte zittert, ſich des Abends in den
Mondſchein hinleget, und nun Haut und Glieder ſtille
haͤlt, als ob er die Sonnenwaͤrme empfaͤnde: ſo haben
wir hier ſolche Beobachtungen, die es evident machen,
daß die Kraft der Seele daſſelbige vermoͤge, was ſon-
ſten die organiſche Kraft der Nerven verrichtet. Dieſe
Macht der Einbildungskraft aͤußert ſich am ſtaͤrkſten
bey Perſonen von gar zu großer Lebhaftigkeit, und be-
ſonders bey denen, die mit Nervenkrankheiten behaftet
ſind; daher die Charletans in ihren Wunderkuren bey
dieſen Leuten am gluͤcklichſten ſind, ſo wie uͤberhaupt bey
dem gemeinen Haufen, der ſeiner Phantaſie ſich ohne
Einſchraͤnkung uͤberlaͤßt, wenn ſie einmal aus ihrer na-
tuͤrlichen Graͤnze heraus iſt. Und alsdenn erfahren ſol-
che Perſonen reelle Wirkungen einer wahren phyſiſchen
Kraft, die in der Seele lieget, welche bey andern ſtaͤr-
ker uͤberlegenden Perſonen, die ihre Phantaſie zuruͤckhal-
ten, nicht erfolgen. Der gute Glaube hilft den Kranken,
wie eine Arzeney. Daher man ſich nicht wundern darf,
daß ſie ſich auf ihre Empfindung mit dem ſtaͤrkſten Be-
wußtſeyn berufen. Es giebt ganze Zeitalter und Laͤn-
der, die fuͤr dergleichen Wirkungen der Phantaſie em-
pfaͤnglicher ſind, als andere. Aber genauer alle dieſe
Erfahrungen angeſehen, ſo wird man bey den mehreſten es
bald aus den Folgen unterſcheiden koͤnnen, ob es die na-
tuͤrliche koͤrperliche Urſache oder nur ihre Stellvertre-
terin, die Einbildung, ob eine wahre Arzney oder die
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