Was insbesondere die Frage betrifft: ob wir aus unsern Beobachtungen und nach der Analogie der Na- tur irgend einer Gattung von Wesen, die wir unter dem Thierreich begreifen, eine Seele abzusprechen und sie für unbeseelte blos organisirte Körper anzusehen berechtigt sind? so will ich, ohne solche zu entscheiden, nur eine allgemeine Reflexion darüber hinzusetzen.
Die Empfindlichkeit und die Bewegung aus einer Eigenmacht sind die beiden äußern Charaktere der Thierheit, die wir haben, und warum wir Poly- pen und Thierpflanzen für wahre Thiere ansehen. Es ist auch nicht zu zweifeln, daß diese beyden Eigenschaf- ten nicht in einer gewissen Beziehung mit der innern Einheit des Ganzen, und mit dem Uebergewicht einer regierenden Substanz, in der Organisation stehen sollten; nur ist die Frage, in welcher? Und diese beiden letztern Eigenschaften haben wahrscheinlicher wei- se wiederum ein gewisses Verhältniß auf die Vollkom- menheit der Organisation selbst. Aber da wir keinen Maasstab zu der Empfindlichkeit und der Spontaneität besitzen, und auch unsere Jdee von der Vollkommenheit der Organisation so schwankend und unbestimmt ist, so wird alles, was wir hierbey thun können, auf eine ohn- gefähre Schätzung hinausgehen, die aber dennoch in gleicher Maße, wie andre ohngefähre Ueberschläge unse- re Einsichten auf klären, wenn wir nur aus den Beob- achtungen alle Data mit möglichstem Fleiße aufsuchen. Herr Unzer kann also Recht haben, daß es den em- pfindlichen und willkürlich sich bewegenden Jnsekten an einer Seele fehle, wenn es erweislich ist, daß die Uberwichtigkeit Einer Substanz, oder die Ein- heit in dem Princip des Lebens, schneller und in größern Graden bey den niedriger stehenden Wesen ab- nehme, als jene Eigenschaften die Empfindlichkeit und Spontaneität, und die Vollkommenheit der Organisa-
tion.
XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Was insbeſondere die Frage betrifft: ob wir aus unſern Beobachtungen und nach der Analogie der Na- tur irgend einer Gattung von Weſen, die wir unter dem Thierreich begreifen, eine Seele abzuſprechen und ſie fuͤr unbeſeelte blos organiſirte Koͤrper anzuſehen berechtigt ſind? ſo will ich, ohne ſolche zu entſcheiden, nur eine allgemeine Reflexion daruͤber hinzuſetzen.
Die Empfindlichkeit und die Bewegung aus einer Eigenmacht ſind die beiden aͤußern Charaktere der Thierheit, die wir haben, und warum wir Poly- pen und Thierpflanzen fuͤr wahre Thiere anſehen. Es iſt auch nicht zu zweifeln, daß dieſe beyden Eigenſchaf- ten nicht in einer gewiſſen Beziehung mit der innern Einheit des Ganzen, und mit dem Uebergewicht einer regierenden Subſtanz, in der Organiſation ſtehen ſollten; nur iſt die Frage, in welcher? Und dieſe beiden letztern Eigenſchaften haben wahrſcheinlicher wei- ſe wiederum ein gewiſſes Verhaͤltniß auf die Vollkom- menheit der Organiſation ſelbſt. Aber da wir keinen Maasſtab zu der Empfindlichkeit und der Spontaneitaͤt beſitzen, und auch unſere Jdee von der Vollkommenheit der Organiſation ſo ſchwankend und unbeſtimmt iſt, ſo wird alles, was wir hierbey thun koͤnnen, auf eine ohn- gefaͤhre Schaͤtzung hinausgehen, die aber dennoch in gleicher Maße, wie andre ohngefaͤhre Ueberſchlaͤge unſe- re Einſichten auf klaͤren, wenn wir nur aus den Beob- achtungen alle Data mit moͤglichſtem Fleiße aufſuchen. Herr Unzer kann alſo Recht haben, daß es den em- pfindlichen und willkuͤrlich ſich bewegenden Jnſekten an einer Seele fehle, wenn es erweislich iſt, daß die Uberwichtigkeit Einer Subſtanz, oder die Ein- heit in dem Princip des Lebens, ſchneller und in groͤßern Graden bey den niedriger ſtehenden Weſen ab- nehme, als jene Eigenſchaften die Empfindlichkeit und Spontaneitaͤt, und die Vollkommenheit der Organiſa-
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XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Was insbeſondere die Frage betrifft: ob wir aus
unſern Beobachtungen und nach der Analogie der Na-
tur irgend einer Gattung von Weſen, die wir unter dem
Thierreich begreifen, eine Seele abzuſprechen und ſie
fuͤr unbeſeelte blos organiſirte Koͤrper anzuſehen berechtigt
ſind? ſo will ich, ohne ſolche zu entſcheiden, nur eine
allgemeine Reflexion daruͤber hinzuſetzen.
Die Empfindlichkeit und die Bewegung aus
einer Eigenmacht ſind die beiden aͤußern Charaktere
der Thierheit, die wir haben, und warum wir Poly-
pen und Thierpflanzen fuͤr wahre Thiere anſehen. Es
iſt auch nicht zu zweifeln, daß dieſe beyden Eigenſchaf-
ten nicht in einer gewiſſen Beziehung mit der innern
Einheit des Ganzen, und mit dem Uebergewicht
einer regierenden Subſtanz, in der Organiſation
ſtehen ſollten; nur iſt die Frage, in welcher? Und dieſe
beiden letztern Eigenſchaften haben wahrſcheinlicher wei-
ſe wiederum ein gewiſſes Verhaͤltniß auf die Vollkom-
menheit der Organiſation ſelbſt. Aber da wir keinen
Maasſtab zu der Empfindlichkeit und der Spontaneitaͤt
beſitzen, und auch unſere Jdee von der Vollkommenheit
der Organiſation ſo ſchwankend und unbeſtimmt iſt, ſo
wird alles, was wir hierbey thun koͤnnen, auf eine ohn-
gefaͤhre Schaͤtzung hinausgehen, die aber dennoch in
gleicher Maße, wie andre ohngefaͤhre Ueberſchlaͤge unſe-
re Einſichten auf klaͤren, wenn wir nur aus den Beob-
achtungen alle Data mit moͤglichſtem Fleiße aufſuchen.
Herr Unzer kann alſo Recht haben, daß es den em-
pfindlichen und willkuͤrlich ſich bewegenden Jnſekten
an einer Seele fehle, wenn es erweislich iſt, daß die
Uberwichtigkeit Einer Subſtanz, oder die Ein-
heit in dem Princip des Lebens, ſchneller und in
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Spontaneitaͤt, und die Vollkommenheit der Organiſa-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/384>, abgerufen am 22.11.2024.
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