diesem die allmäligen Fortschritte und das Mannichfal- tige, was dabey vorkommt, am leichtesten beobachten.
1) Es ist ein großer merklicher Unterschied, den man auch innerlich fühlet, ob jemand eine geometrische Demonstration nur allein mit dem Gedächtnisse gefaßt, oder sie mit dem Verstande durchgedacht habe. Die Wirkungen, welche in beiden Fällen entstehen, und in dem Verstandesvermögen aus der Arbeit zurückblei- ben, sind sehr unterschieden. Jn dem erstern Fall mag man sich die Begriffe und Sätze, welche man erlernet hat, in ihrer Verbindung untereinander noch genauer, vollständiger und tiefer eingeprägt haben, als in dem letztern, aber man wird sich auch nach der Uebung noch eben so wenig aufgelegt finden, selbst einen Beweis für den Lehrsatz aufzusuchen, als man es vorher war; und wenn man zu einer folgenden Demonstration übergehet: so ist es um nichts leichter geworden, nun diese zu be- greifen. Jm andern Fall hingegen, wenn der Ver- stand mehr im Denken gearbeitet hat, als das Gedächt- niß in Auffassung der Jdeen, zeiget sich eine viel andere Wirkung. Wer die erste Hälfte einer Wissenschaft durchgedacht hat, findet die zwote viel leichter: nicht so, der sie auswendig lernet; auch wenn jener weniger im Gedächtnisse aufbehalten hat, als dieser, findet er doch, daß er sich in Hinsicht des folgenden vorgearbeitet habe.
2) Die Uebung des natürlichen Verstandes in den Sprachen, Künsten und in der Geschichte sind, wie die Erfahrung lehret, eine Vorbereitung desselben zu den höhern Wissenschaften. Nun mag es wohl seyn, daß ein Kopf in einer Erkenntnißart weit fortgehen, und in einer andern zurückbleiben kann: aber es ist wider die Erfahrung zu behaupten, daß die Anwendung des Verstandes bey einer Wissenschaft nicht etwas hinterlas- se, wodurch die natürliche Fähigkeit zu einer andern verstärket und erhöhet werde, auch da, wo die erstern
Begrif-
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
dieſem die allmaͤligen Fortſchritte und das Mannichfal- tige, was dabey vorkommt, am leichteſten beobachten.
1) Es iſt ein großer merklicher Unterſchied, den man auch innerlich fuͤhlet, ob jemand eine geometriſche Demonſtration nur allein mit dem Gedaͤchtniſſe gefaßt, oder ſie mit dem Verſtande durchgedacht habe. Die Wirkungen, welche in beiden Faͤllen entſtehen, und in dem Verſtandesvermoͤgen aus der Arbeit zuruͤckblei- ben, ſind ſehr unterſchieden. Jn dem erſtern Fall mag man ſich die Begriffe und Saͤtze, welche man erlernet hat, in ihrer Verbindung untereinander noch genauer, vollſtaͤndiger und tiefer eingepraͤgt haben, als in dem letztern, aber man wird ſich auch nach der Uebung noch eben ſo wenig aufgelegt finden, ſelbſt einen Beweis fuͤr den Lehrſatz aufzuſuchen, als man es vorher war; und wenn man zu einer folgenden Demonſtration uͤbergehet: ſo iſt es um nichts leichter geworden, nun dieſe zu be- greifen. Jm andern Fall hingegen, wenn der Ver- ſtand mehr im Denken gearbeitet hat, als das Gedaͤcht- niß in Auffaſſung der Jdeen, zeiget ſich eine viel andere Wirkung. Wer die erſte Haͤlfte einer Wiſſenſchaft durchgedacht hat, findet die zwote viel leichter: nicht ſo, der ſie auswendig lernet; auch wenn jener weniger im Gedaͤchtniſſe aufbehalten hat, als dieſer, findet er doch, daß er ſich in Hinſicht des folgenden vorgearbeitet habe.
2) Die Uebung des natuͤrlichen Verſtandes in den Sprachen, Kuͤnſten und in der Geſchichte ſind, wie die Erfahrung lehret, eine Vorbereitung deſſelben zu den hoͤhern Wiſſenſchaften. Nun mag es wohl ſeyn, daß ein Kopf in einer Erkenntnißart weit fortgehen, und in einer andern zuruͤckbleiben kann: aber es iſt wider die Erfahrung zu behaupten, daß die Anwendung des Verſtandes bey einer Wiſſenſchaft nicht etwas hinterlaſ- ſe, wodurch die natuͤrliche Faͤhigkeit zu einer andern verſtaͤrket und erhoͤhet werde, auch da, wo die erſtern
Begrif-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0416"n="386"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">XIV.</hi> Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt</hi></fw><lb/>
dieſem die allmaͤligen Fortſchritte und das Mannichfal-<lb/>
tige, was dabey vorkommt, am leichteſten beobachten.</p><lb/><p>1) Es iſt ein großer merklicher Unterſchied, den<lb/>
man auch innerlich fuͤhlet, ob jemand eine geometriſche<lb/>
Demonſtration nur allein mit dem Gedaͤchtniſſe gefaßt,<lb/>
oder ſie mit dem Verſtande durchgedacht habe. Die<lb/>
Wirkungen, welche in beiden Faͤllen entſtehen, und<lb/>
in dem Verſtandesvermoͤgen aus der Arbeit zuruͤckblei-<lb/>
ben, ſind ſehr unterſchieden. Jn dem erſtern Fall mag<lb/>
man ſich die Begriffe und Saͤtze, welche man erlernet<lb/>
hat, in ihrer Verbindung untereinander noch genauer,<lb/>
vollſtaͤndiger und tiefer eingepraͤgt haben, als in dem<lb/>
letztern, aber man wird ſich auch nach der Uebung noch<lb/>
eben ſo wenig aufgelegt finden, ſelbſt einen Beweis fuͤr<lb/>
den Lehrſatz aufzuſuchen, als man es vorher war; und<lb/>
wenn man zu einer folgenden Demonſtration uͤbergehet:<lb/>ſo iſt es um nichts leichter geworden, nun dieſe zu be-<lb/>
greifen. Jm andern Fall hingegen, wenn der Ver-<lb/>ſtand mehr im Denken gearbeitet hat, als das Gedaͤcht-<lb/>
niß in Auffaſſung der Jdeen, zeiget ſich eine viel andere<lb/>
Wirkung. Wer die erſte Haͤlfte einer Wiſſenſchaft<lb/>
durchgedacht hat, findet die zwote viel leichter: nicht ſo,<lb/>
der ſie auswendig lernet; auch wenn jener weniger im<lb/>
Gedaͤchtniſſe aufbehalten hat, als dieſer, findet er doch,<lb/>
daß er ſich in Hinſicht des folgenden vorgearbeitet habe.</p><lb/><p>2) Die Uebung des natuͤrlichen Verſtandes in den<lb/>
Sprachen, Kuͤnſten und in der Geſchichte ſind, wie<lb/>
die Erfahrung lehret, eine Vorbereitung deſſelben zu<lb/>
den hoͤhern Wiſſenſchaften. Nun mag es wohl ſeyn,<lb/>
daß ein Kopf in einer Erkenntnißart weit fortgehen, und<lb/>
in einer andern zuruͤckbleiben kann: aber es iſt wider<lb/>
die Erfahrung zu behaupten, daß die Anwendung des<lb/>
Verſtandes bey einer Wiſſenſchaft nicht etwas hinterlaſ-<lb/>ſe, wodurch die natuͤrliche Faͤhigkeit zu einer andern<lb/>
verſtaͤrket und erhoͤhet werde, auch da, wo die erſtern<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Begrif-</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[386/0416]
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
dieſem die allmaͤligen Fortſchritte und das Mannichfal-
tige, was dabey vorkommt, am leichteſten beobachten.
1) Es iſt ein großer merklicher Unterſchied, den
man auch innerlich fuͤhlet, ob jemand eine geometriſche
Demonſtration nur allein mit dem Gedaͤchtniſſe gefaßt,
oder ſie mit dem Verſtande durchgedacht habe. Die
Wirkungen, welche in beiden Faͤllen entſtehen, und
in dem Verſtandesvermoͤgen aus der Arbeit zuruͤckblei-
ben, ſind ſehr unterſchieden. Jn dem erſtern Fall mag
man ſich die Begriffe und Saͤtze, welche man erlernet
hat, in ihrer Verbindung untereinander noch genauer,
vollſtaͤndiger und tiefer eingepraͤgt haben, als in dem
letztern, aber man wird ſich auch nach der Uebung noch
eben ſo wenig aufgelegt finden, ſelbſt einen Beweis fuͤr
den Lehrſatz aufzuſuchen, als man es vorher war; und
wenn man zu einer folgenden Demonſtration uͤbergehet:
ſo iſt es um nichts leichter geworden, nun dieſe zu be-
greifen. Jm andern Fall hingegen, wenn der Ver-
ſtand mehr im Denken gearbeitet hat, als das Gedaͤcht-
niß in Auffaſſung der Jdeen, zeiget ſich eine viel andere
Wirkung. Wer die erſte Haͤlfte einer Wiſſenſchaft
durchgedacht hat, findet die zwote viel leichter: nicht ſo,
der ſie auswendig lernet; auch wenn jener weniger im
Gedaͤchtniſſe aufbehalten hat, als dieſer, findet er doch,
daß er ſich in Hinſicht des folgenden vorgearbeitet habe.
2) Die Uebung des natuͤrlichen Verſtandes in den
Sprachen, Kuͤnſten und in der Geſchichte ſind, wie
die Erfahrung lehret, eine Vorbereitung deſſelben zu
den hoͤhern Wiſſenſchaften. Nun mag es wohl ſeyn,
daß ein Kopf in einer Erkenntnißart weit fortgehen, und
in einer andern zuruͤckbleiben kann: aber es iſt wider
die Erfahrung zu behaupten, daß die Anwendung des
Verſtandes bey einer Wiſſenſchaft nicht etwas hinterlaſ-
ſe, wodurch die natuͤrliche Faͤhigkeit zu einer andern
verſtaͤrket und erhoͤhet werde, auch da, wo die erſtern
Begrif-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/416>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.