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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
sey, kann ganz und gar aus solchen Beyspielen nicht ge-
folgert werden. Denn es ist aus vielen andern Grün-
den begreiflich, warum ein Mann vom Verstande den-
noch zu gewissen Arbeiten nicht aufgelegt ist, die doch
am meisten auf Verstand ankommen. Eine geheime
Unlust ziehet oft die Aufmerksamkeit eines solchen von ei-
ner Sache ab. Zuweilen liegt auch in seinen ersten
Grundideen, oder in dem ersten Anfange der Art da-
bey sich zu benehmen, ein Fehler, der seine wirksame
Kraft in eine falsche Richtung bringet, ohne daß er
selbst es bemerke; und dann faßt und begreift er nicht,
was einem andern leicht und deutlich ist, dessen Ver-
stand weit schwächer ist, als der seinige. Das Genie
macht die meistenmale alles nur mittelmäßig oder
schlecht, wobey es nicht ganz angegriffen wird. Und
der beste Kopf verwickelt sich in Zweifel und Knoten,
die er sich selbst gemacht, und zuweilen aus zu großer
Lebhaftigkeit geschnüret hat. Dieß kann eine Unge-
schicklichkeit veranlassen, die aber nur bloß dem Scheine
nach aus Unvermögen und Schwäche zu entstehen
scheint, wenn sie nach ihrer äußerlich bemerkbaren Wir-
kung beurtheilet wird, die aber wirklich in einer zu gro-
ßen Stärke ihren wahren Grund haben kann. Ueber-
dieß ist es sehr begreiflich, daß selbst die große Menge
von Vorstellungen einer Klasse, welche ein Mensch be-
sitzet, sehr leicht ein Hinderniß werde neue Jdeen von
andern Objekten anzunehmen, die sich auf jene wenig
oder gar nicht so beziehen, wie es erfodert wird, wenn
die Einbildungskraft sie leicht an die vorhandenen anle-
gen soll, die also mit mehr Mühe gefaßt werden, als es
geschehen wäre, wenn die erstern den Kopf nicht schon
eingenommen hätten. Auch bringet selbst die uns
schon geläufig gewordene Art und Weise, zu denken und
zu handeln, eine gewisse Lenkung der Kraft nach einer
Seite hervor, sobald diese, durch irgend eine Ursache

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und Entwickelung des Menſchen.
ſey, kann ganz und gar aus ſolchen Beyſpielen nicht ge-
folgert werden. Denn es iſt aus vielen andern Gruͤn-
den begreiflich, warum ein Mann vom Verſtande den-
noch zu gewiſſen Arbeiten nicht aufgelegt iſt, die doch
am meiſten auf Verſtand ankommen. Eine geheime
Unluſt ziehet oft die Aufmerkſamkeit eines ſolchen von ei-
ner Sache ab. Zuweilen liegt auch in ſeinen erſten
Grundideen, oder in dem erſten Anfange der Art da-
bey ſich zu benehmen, ein Fehler, der ſeine wirkſame
Kraft in eine falſche Richtung bringet, ohne daß er
ſelbſt es bemerke; und dann faßt und begreift er nicht,
was einem andern leicht und deutlich iſt, deſſen Ver-
ſtand weit ſchwaͤcher iſt, als der ſeinige. Das Genie
macht die meiſtenmale alles nur mittelmaͤßig oder
ſchlecht, wobey es nicht ganz angegriffen wird. Und
der beſte Kopf verwickelt ſich in Zweifel und Knoten,
die er ſich ſelbſt gemacht, und zuweilen aus zu großer
Lebhaftigkeit geſchnuͤret hat. Dieß kann eine Unge-
ſchicklichkeit veranlaſſen, die aber nur bloß dem Scheine
nach aus Unvermoͤgen und Schwaͤche zu entſtehen
ſcheint, wenn ſie nach ihrer aͤußerlich bemerkbaren Wir-
kung beurtheilet wird, die aber wirklich in einer zu gro-
ßen Staͤrke ihren wahren Grund haben kann. Ueber-
dieß iſt es ſehr begreiflich, daß ſelbſt die große Menge
von Vorſtellungen einer Klaſſe, welche ein Menſch be-
ſitzet, ſehr leicht ein Hinderniß werde neue Jdeen von
andern Objekten anzunehmen, die ſich auf jene wenig
oder gar nicht ſo beziehen, wie es erfodert wird, wenn
die Einbildungskraft ſie leicht an die vorhandenen anle-
gen ſoll, die alſo mit mehr Muͤhe gefaßt werden, als es
geſchehen waͤre, wenn die erſtern den Kopf nicht ſchon
eingenommen haͤtten. Auch bringet ſelbſt die uns
ſchon gelaͤufig gewordene Art und Weiſe, zu denken und
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Seite hervor, ſobald dieſe, durch irgend eine Urſache

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[389/0419] und Entwickelung des Menſchen. ſey, kann ganz und gar aus ſolchen Beyſpielen nicht ge- folgert werden. Denn es iſt aus vielen andern Gruͤn- den begreiflich, warum ein Mann vom Verſtande den- noch zu gewiſſen Arbeiten nicht aufgelegt iſt, die doch am meiſten auf Verſtand ankommen. Eine geheime Unluſt ziehet oft die Aufmerkſamkeit eines ſolchen von ei- ner Sache ab. Zuweilen liegt auch in ſeinen erſten Grundideen, oder in dem erſten Anfange der Art da- bey ſich zu benehmen, ein Fehler, der ſeine wirkſame Kraft in eine falſche Richtung bringet, ohne daß er ſelbſt es bemerke; und dann faßt und begreift er nicht, was einem andern leicht und deutlich iſt, deſſen Ver- ſtand weit ſchwaͤcher iſt, als der ſeinige. Das Genie macht die meiſtenmale alles nur mittelmaͤßig oder ſchlecht, wobey es nicht ganz angegriffen wird. Und der beſte Kopf verwickelt ſich in Zweifel und Knoten, die er ſich ſelbſt gemacht, und zuweilen aus zu großer Lebhaftigkeit geſchnuͤret hat. Dieß kann eine Unge- ſchicklichkeit veranlaſſen, die aber nur bloß dem Scheine nach aus Unvermoͤgen und Schwaͤche zu entſtehen ſcheint, wenn ſie nach ihrer aͤußerlich bemerkbaren Wir- kung beurtheilet wird, die aber wirklich in einer zu gro- ßen Staͤrke ihren wahren Grund haben kann. Ueber- dieß iſt es ſehr begreiflich, daß ſelbſt die große Menge von Vorſtellungen einer Klaſſe, welche ein Menſch be- ſitzet, ſehr leicht ein Hinderniß werde neue Jdeen von andern Objekten anzunehmen, die ſich auf jene wenig oder gar nicht ſo beziehen, wie es erfodert wird, wenn die Einbildungskraft ſie leicht an die vorhandenen anle- gen ſoll, die alſo mit mehr Muͤhe gefaßt werden, als es geſchehen waͤre, wenn die erſtern den Kopf nicht ſchon eingenommen haͤtten. Auch bringet ſelbſt die uns ſchon gelaͤufig gewordene Art und Weiſe, zu denken und zu handeln, eine gewiſſe Lenkung der Kraft nach einer Seite hervor, ſobald dieſe, durch irgend eine Urſache gerei- B b 3

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/419>, abgerufen am 22.11.2024.