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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
darauf an, auf welche Weise die Kraft bey einer Aktion
gelenket wird. Die Anwendung des Verstandes ver-
mehret zuweilen die Einsichten, und stärket das Ver-
mögen selbst nicht, oder doch nur auf eine unmerkliche
Art: zuweilen verhält sichs umgekehrt; der Verstand
wird gestärket, aber die durchgedachten Kenntnisse wer-
den vergessen. Man findet Knaben, die es in geome-
trischen Demonstrationen weit gebracht haben, und mit
ziemlicher Fertigkeit im Schach spielen, und dennoch
sonsten bey ihren Beschäfftigungen nicht mehr Uebungs-
kraft beweisen, als andere Kinder. Es war Gedächt-
niß und Jmaginationswerk. Man konnte in einem
Beyspiele einem Knaben andere Figuren und Zeichen
vorlegen, als er das erstemal gebraucht hatte, und er
führte die Demonstration dennoch gut aus. Dieß ward
von verschiedenen Personen als ein Beweis angesehen,
daß es hier wirklich der Verstand und nicht das Ge-
dächtniß sey, welches bey der Demonstration wirkte.
Aber wenn mans genauer ansah: so wars doch nicht
ganz also. Einige Vernunft war darunter; aber das
Meiste bestand in einer Fertigkeit der Phantasie, nach
dem Gesetze der Aehnlichkeit ein Rechnungserempel wie
das andere zu bearbeiten, daß es doch mehr auf eine
sinnliche Erwartung ähnlicher Fälle, als auf eine Wir-
kung der Ueberlegungskraft hinauslief. Mancher hat
die Vernunftlehre und die allgemeine Philosophie stu-
dirt, die Begriffe, und auch in ihrer Verbindung, ge-
faßt; und dennoch bestehet das Meiste bey ihm mehr in
Jdeen von den Objekten und in Jdeenreihen, als in
aufgesammelten Jdeen von den Aktionen selbst. Man
nimmt es leicht bey sich gewahr; wenn man eine Wis-
senschaft bloß um der Kenntnisse der Sachen willen er-
lernet: so richtet man die ganze Aufmerksamkeit auch
fast allein nach dieser Seite hin, und wird gelehrter oh-
ne verständiger zu werden. Es ist ganz etwas anders,

die

und Entwickelung des Menſchen.
darauf an, auf welche Weiſe die Kraft bey einer Aktion
gelenket wird. Die Anwendung des Verſtandes ver-
mehret zuweilen die Einſichten, und ſtaͤrket das Ver-
moͤgen ſelbſt nicht, oder doch nur auf eine unmerkliche
Art: zuweilen verhaͤlt ſichs umgekehrt; der Verſtand
wird geſtaͤrket, aber die durchgedachten Kenntniſſe wer-
den vergeſſen. Man findet Knaben, die es in geome-
triſchen Demonſtrationen weit gebracht haben, und mit
ziemlicher Fertigkeit im Schach ſpielen, und dennoch
ſonſten bey ihren Beſchaͤfftigungen nicht mehr Uebungs-
kraft beweiſen, als andere Kinder. Es war Gedaͤcht-
niß und Jmaginationswerk. Man konnte in einem
Beyſpiele einem Knaben andere Figuren und Zeichen
vorlegen, als er das erſtemal gebraucht hatte, und er
fuͤhrte die Demonſtration dennoch gut aus. Dieß ward
von verſchiedenen Perſonen als ein Beweis angeſehen,
daß es hier wirklich der Verſtand und nicht das Ge-
daͤchtniß ſey, welches bey der Demonſtration wirkte.
Aber wenn mans genauer anſah: ſo wars doch nicht
ganz alſo. Einige Vernunft war darunter; aber das
Meiſte beſtand in einer Fertigkeit der Phantaſie, nach
dem Geſetze der Aehnlichkeit ein Rechnungserempel wie
das andere zu bearbeiten, daß es doch mehr auf eine
ſinnliche Erwartung aͤhnlicher Faͤlle, als auf eine Wir-
kung der Ueberlegungskraft hinauslief. Mancher hat
die Vernunftlehre und die allgemeine Philoſophie ſtu-
dirt, die Begriffe, und auch in ihrer Verbindung, ge-
faßt; und dennoch beſtehet das Meiſte bey ihm mehr in
Jdeen von den Objekten und in Jdeenreihen, als in
aufgeſammelten Jdeen von den Aktionen ſelbſt. Man
nimmt es leicht bey ſich gewahr; wenn man eine Wiſ-
ſenſchaft bloß um der Kenntniſſe der Sachen willen er-
lernet: ſo richtet man die ganze Aufmerkſamkeit auch
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ne verſtaͤndiger zu werden. Es iſt ganz etwas anders,

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[395/0425] und Entwickelung des Menſchen. darauf an, auf welche Weiſe die Kraft bey einer Aktion gelenket wird. Die Anwendung des Verſtandes ver- mehret zuweilen die Einſichten, und ſtaͤrket das Ver- moͤgen ſelbſt nicht, oder doch nur auf eine unmerkliche Art: zuweilen verhaͤlt ſichs umgekehrt; der Verſtand wird geſtaͤrket, aber die durchgedachten Kenntniſſe wer- den vergeſſen. Man findet Knaben, die es in geome- triſchen Demonſtrationen weit gebracht haben, und mit ziemlicher Fertigkeit im Schach ſpielen, und dennoch ſonſten bey ihren Beſchaͤfftigungen nicht mehr Uebungs- kraft beweiſen, als andere Kinder. Es war Gedaͤcht- niß und Jmaginationswerk. Man konnte in einem Beyſpiele einem Knaben andere Figuren und Zeichen vorlegen, als er das erſtemal gebraucht hatte, und er fuͤhrte die Demonſtration dennoch gut aus. Dieß ward von verſchiedenen Perſonen als ein Beweis angeſehen, daß es hier wirklich der Verſtand und nicht das Ge- daͤchtniß ſey, welches bey der Demonſtration wirkte. Aber wenn mans genauer anſah: ſo wars doch nicht ganz alſo. Einige Vernunft war darunter; aber das Meiſte beſtand in einer Fertigkeit der Phantaſie, nach dem Geſetze der Aehnlichkeit ein Rechnungserempel wie das andere zu bearbeiten, daß es doch mehr auf eine ſinnliche Erwartung aͤhnlicher Faͤlle, als auf eine Wir- kung der Ueberlegungskraft hinauslief. Mancher hat die Vernunftlehre und die allgemeine Philoſophie ſtu- dirt, die Begriffe, und auch in ihrer Verbindung, ge- faßt; und dennoch beſtehet das Meiſte bey ihm mehr in Jdeen von den Objekten und in Jdeenreihen, als in aufgeſammelten Jdeen von den Aktionen ſelbſt. Man nimmt es leicht bey ſich gewahr; wenn man eine Wiſ- ſenſchaft bloß um der Kenntniſſe der Sachen willen er- lernet: ſo richtet man die ganze Aufmerkſamkeit auch faſt allein nach dieſer Seite hin, und wird gelehrter oh- ne verſtaͤndiger zu werden. Es iſt ganz etwas anders, die

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/425>, abgerufen am 22.11.2024.