Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.und Freyheit. zukommen, und die Erfahrungen zuverläßig zu machen.Die Natur siehet bey der Uebung von selbsten darauf hin. Sind wir zweifelhaft, ob es ein bloßer Schein oder ein wahrer Gegenstand ist, den wir vor Augen ha- ben, so beschauen wir ihn genauer, näher, von mehrern Seiten und unter veränderten Umständen, wie die Ge- legenheit zu diesen oder jenen gegeben wird; und beru- higet uns dieses noch nicht, so fragen wir einen andern Sinn, und am gewöhnlichsten das Gefühl, durch dessen Uebereinstimmung mit dem Gesicht aller Zweifel geho- ben wird. Es ist die nämliche Methode, welche uns die Natur bey den innern Empfindungen gelehret hat. Ob ich wohl wirklich das Vermögen habe aufzustehen, da ich sitze; ob ich wirklich die Reihe meiner Betrachtun- gen, die ich jetzo mit Fleiß verfolge, unterbrechen und mich der gegenwärtigen Vorstellungen entschlagen kön- ne? Was würde ich thun, wenn ich darüber zweifelhaft wäre? Mich bemühen, entweder genauer, stärker, völ- liger meinen jetzigen Zustand zu beobachten, und mit demjenigen, den ich unter den Begriffen von solchen Ver- mögen mir vorstelle, in deren Besitz ich zu seyn vermei- ne, vergleichen; oder ich würde den gegenwärtigen Zu- stand von mehrern Seiten in seinen verschiedenen be- merkbaren Folgen befühlen. Wenn ich noch zweifelte, ob ich dieß oder jenes in meiner Macht habe, so würde ich den Anfang machen, das Vermögen anzuwenden, und dann darauf achten, ob auch zugleich die Wirkung anfange hervorzugehen? Diese letztere Art der Berichti- gung ist dem Befühlen bey den gesehenen Gegenständen ähnlich. Es ist auch das kürzeste Mittel, um zur Ge- wißheit zu kommen, und wo es in unserer Gewalt ist, auch das gewöhnlichste, dessen wir uns bedienen. Sollte mein Fuß auch jetzo wohl lahm oder steif seyn? Sollte ich wohl aufstehen können? Jch ziehe ihn an; erprobe das Vermögen; es entstehet ein Bestreben, und der Kör- per
und Freyheit. zukommen, und die Erfahrungen zuverlaͤßig zu machen.Die Natur ſiehet bey der Uebung von ſelbſten darauf hin. Sind wir zweifelhaft, ob es ein bloßer Schein oder ein wahrer Gegenſtand iſt, den wir vor Augen ha- ben, ſo beſchauen wir ihn genauer, naͤher, von mehrern Seiten und unter veraͤnderten Umſtaͤnden, wie die Ge- legenheit zu dieſen oder jenen gegeben wird; und beru- higet uns dieſes noch nicht, ſo fragen wir einen andern Sinn, und am gewoͤhnlichſten das Gefuͤhl, durch deſſen Uebereinſtimmung mit dem Geſicht aller Zweifel geho- ben wird. Es iſt die naͤmliche Methode, welche uns die Natur bey den innern Empfindungen gelehret hat. Ob ich wohl wirklich das Vermoͤgen habe aufzuſtehen, da ich ſitze; ob ich wirklich die Reihe meiner Betrachtun- gen, die ich jetzo mit Fleiß verfolge, unterbrechen und mich der gegenwaͤrtigen Vorſtellungen entſchlagen koͤn- ne? Was wuͤrde ich thun, wenn ich daruͤber zweifelhaft waͤre? Mich bemuͤhen, entweder genauer, ſtaͤrker, voͤl- liger meinen jetzigen Zuſtand zu beobachten, und mit demjenigen, den ich unter den Begriffen von ſolchen Ver- moͤgen mir vorſtelle, in deren Beſitz ich zu ſeyn vermei- ne, vergleichen; oder ich wuͤrde den gegenwaͤrtigen Zu- ſtand von mehrern Seiten in ſeinen verſchiedenen be- merkbaren Folgen befuͤhlen. Wenn ich noch zweifelte, ob ich dieß oder jenes in meiner Macht habe, ſo wuͤrde ich den Anfang machen, das Vermoͤgen anzuwenden, und dann darauf achten, ob auch zugleich die Wirkung anfange hervorzugehen? Dieſe letztere Art der Berichti- gung iſt dem Befuͤhlen bey den geſehenen Gegenſtaͤnden aͤhnlich. Es iſt auch das kuͤrzeſte Mittel, um zur Ge- wißheit zu kommen, und wo es in unſerer Gewalt iſt, auch das gewoͤhnlichſte, deſſen wir uns bedienen. Sollte mein Fuß auch jetzo wohl lahm oder ſteif ſeyn? Sollte ich wohl aufſtehen koͤnnen? Jch ziehe ihn an; erprobe das Vermoͤgen; es entſtehet ein Beſtreben, und der Koͤr- per
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und Freyheit.
zukommen, und die Erfahrungen zuverlaͤßig zu machen.
Die Natur ſiehet bey der Uebung von ſelbſten darauf
hin. Sind wir zweifelhaft, ob es ein bloßer Schein
oder ein wahrer Gegenſtand iſt, den wir vor Augen ha-
ben, ſo beſchauen wir ihn genauer, naͤher, von mehrern
Seiten und unter veraͤnderten Umſtaͤnden, wie die Ge-
legenheit zu dieſen oder jenen gegeben wird; und beru-
higet uns dieſes noch nicht, ſo fragen wir einen andern
Sinn, und am gewoͤhnlichſten das Gefuͤhl, durch deſſen
Uebereinſtimmung mit dem Geſicht aller Zweifel geho-
ben wird. Es iſt die naͤmliche Methode, welche uns die
Natur bey den innern Empfindungen gelehret hat. Ob
ich wohl wirklich das Vermoͤgen habe aufzuſtehen, da
ich ſitze; ob ich wirklich die Reihe meiner Betrachtun-
gen, die ich jetzo mit Fleiß verfolge, unterbrechen und
mich der gegenwaͤrtigen Vorſtellungen entſchlagen koͤn-
ne? Was wuͤrde ich thun, wenn ich daruͤber zweifelhaft
waͤre? Mich bemuͤhen, entweder genauer, ſtaͤrker, voͤl-
liger meinen jetzigen Zuſtand zu beobachten, und mit
demjenigen, den ich unter den Begriffen von ſolchen Ver-
moͤgen mir vorſtelle, in deren Beſitz ich zu ſeyn vermei-
ne, vergleichen; oder ich wuͤrde den gegenwaͤrtigen Zu-
ſtand von mehrern Seiten in ſeinen verſchiedenen be-
merkbaren Folgen befuͤhlen. Wenn ich noch zweifelte,
ob ich dieß oder jenes in meiner Macht habe, ſo wuͤrde
ich den Anfang machen, das Vermoͤgen anzuwenden,
und dann darauf achten, ob auch zugleich die Wirkung
anfange hervorzugehen? Dieſe letztere Art der Berichti-
gung iſt dem Befuͤhlen bey den geſehenen Gegenſtaͤnden
aͤhnlich. Es iſt auch das kuͤrzeſte Mittel, um zur Ge-
wißheit zu kommen, und wo es in unſerer Gewalt iſt,
auch das gewoͤhnlichſte, deſſen wir uns bedienen. Sollte
mein Fuß auch jetzo wohl lahm oder ſteif ſeyn? Sollte
ich wohl aufſtehen koͤnnen? Jch ziehe ihn an; erprobe das
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