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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
gegen das Evolutionssystem bey den Körpern zu heben
sucht. Giebt es Gefühle, von denen wir keine Spur
in den Kindern antreffen, die doch durch den Unterricht
in ihnen entstehen, wie z. B. unsere jungen Kinder so
schamlos sind, als die Weiber auf Otaheite: so wer-
den sie sagen, daß das Gefühl deswegen doch seinen ersten,
aber auch unsichtbaren, Anlagen nach vorhanden sey, wie
die zarten Gefäße des Thiers in dem Ey, die nicht eher
in die Augen fallen, als bis die Entwickelung zu einem
gewissen Grade gekommen ist. Wenn die Erfahrung
zeiget, daß es auch erwachsene Menschen giebt, bey de-
nen dieses oder jenes leidende oder thätige Vermögen der
Seele zurückgeblieben ist, weil es ihnen an gewissen
Vorstellungen oder Jdeenverknüpfungen fehlt, die an-
dere bekommen haben, so ist wiederum die Antwort bey
der Hand: nicht an den besondern Anlagen der Natur,
die hiezu gehören, habe es gemangelt, sondern an der
nöthigen Nahrung, wodurch die Anlagen hätten entwi-
ckelt werden müssen, die in den Jdeenverknüpfungen
enthalten sind. Denn diese und alle übrige Eindrücke,
die von außen kommen, mögen immer das seyn, was
die unentbehrliche Nahrung bey dem Körper ist, ohne
welche er nicht wächset; und dennoch folget nicht, daß
irgend eine neue Form in dem Jnnern der Seele durch
sie erzeuget werden könne, die nicht schon in der Natur
im Kleinen vorhanden war. Vielleicht entscheidet die
psychologische Analyse der Vermögen besser? Mit der
Erfahrung verbunden würde sie ohne Zweifel entschei-
den, wenn sie nur tief genug in das Jnnere eindringen,
und vollständig deutliche Begriffe von dem, was das
Eigene dieser oder jener Vermögen ausmacht, geben
könnte. Das Gefühl des Guten, des Schönen, des
Anständigen ist doch nichts, sagt man, als das allge-
meine Gefühl der Lust und des Schmerzens; und ihr
Eigenes hängt nur davon ab, daß das Grundgefühl

durch

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
gegen das Evolutionsſyſtem bey den Koͤrpern zu heben
ſucht. Giebt es Gefuͤhle, von denen wir keine Spur
in den Kindern antreffen, die doch durch den Unterricht
in ihnen entſtehen, wie z. B. unſere jungen Kinder ſo
ſchamlos ſind, als die Weiber auf Otaheite: ſo wer-
den ſie ſagen, daß das Gefuͤhl deswegen doch ſeinen erſten,
aber auch unſichtbaren, Anlagen nach vorhanden ſey, wie
die zarten Gefaͤße des Thiers in dem Ey, die nicht eher
in die Augen fallen, als bis die Entwickelung zu einem
gewiſſen Grade gekommen iſt. Wenn die Erfahrung
zeiget, daß es auch erwachſene Menſchen giebt, bey de-
nen dieſes oder jenes leidende oder thaͤtige Vermoͤgen der
Seele zuruͤckgeblieben iſt, weil es ihnen an gewiſſen
Vorſtellungen oder Jdeenverknuͤpfungen fehlt, die an-
dere bekommen haben, ſo iſt wiederum die Antwort bey
der Hand: nicht an den beſondern Anlagen der Natur,
die hiezu gehoͤren, habe es gemangelt, ſondern an der
noͤthigen Nahrung, wodurch die Anlagen haͤtten entwi-
ckelt werden muͤſſen, die in den Jdeenverknuͤpfungen
enthalten ſind. Denn dieſe und alle uͤbrige Eindruͤcke,
die von außen kommen, moͤgen immer das ſeyn, was
die unentbehrliche Nahrung bey dem Koͤrper iſt, ohne
welche er nicht waͤchſet; und dennoch folget nicht, daß
irgend eine neue Form in dem Jnnern der Seele durch
ſie erzeuget werden koͤnne, die nicht ſchon in der Natur
im Kleinen vorhanden war. Vielleicht entſcheidet die
pſychologiſche Analyſe der Vermoͤgen beſſer? Mit der
Erfahrung verbunden wuͤrde ſie ohne Zweifel entſchei-
den, wenn ſie nur tief genug in das Jnnere eindringen,
und vollſtaͤndig deutliche Begriffe von dem, was das
Eigene dieſer oder jener Vermoͤgen ausmacht, geben
koͤnnte. Das Gefuͤhl des Guten, des Schoͤnen, des
Anſtaͤndigen iſt doch nichts, ſagt man, als das allge-
meine Gefuͤhl der Luſt und des Schmerzens; und ihr
Eigenes haͤngt nur davon ab, daß das Grundgefuͤhl

durch
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[440/0470] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt gegen das Evolutionsſyſtem bey den Koͤrpern zu heben ſucht. Giebt es Gefuͤhle, von denen wir keine Spur in den Kindern antreffen, die doch durch den Unterricht in ihnen entſtehen, wie z. B. unſere jungen Kinder ſo ſchamlos ſind, als die Weiber auf Otaheite: ſo wer- den ſie ſagen, daß das Gefuͤhl deswegen doch ſeinen erſten, aber auch unſichtbaren, Anlagen nach vorhanden ſey, wie die zarten Gefaͤße des Thiers in dem Ey, die nicht eher in die Augen fallen, als bis die Entwickelung zu einem gewiſſen Grade gekommen iſt. Wenn die Erfahrung zeiget, daß es auch erwachſene Menſchen giebt, bey de- nen dieſes oder jenes leidende oder thaͤtige Vermoͤgen der Seele zuruͤckgeblieben iſt, weil es ihnen an gewiſſen Vorſtellungen oder Jdeenverknuͤpfungen fehlt, die an- dere bekommen haben, ſo iſt wiederum die Antwort bey der Hand: nicht an den beſondern Anlagen der Natur, die hiezu gehoͤren, habe es gemangelt, ſondern an der noͤthigen Nahrung, wodurch die Anlagen haͤtten entwi- ckelt werden muͤſſen, die in den Jdeenverknuͤpfungen enthalten ſind. Denn dieſe und alle uͤbrige Eindruͤcke, die von außen kommen, moͤgen immer das ſeyn, was die unentbehrliche Nahrung bey dem Koͤrper iſt, ohne welche er nicht waͤchſet; und dennoch folget nicht, daß irgend eine neue Form in dem Jnnern der Seele durch ſie erzeuget werden koͤnne, die nicht ſchon in der Natur im Kleinen vorhanden war. Vielleicht entſcheidet die pſychologiſche Analyſe der Vermoͤgen beſſer? Mit der Erfahrung verbunden wuͤrde ſie ohne Zweifel entſchei- den, wenn ſie nur tief genug in das Jnnere eindringen, und vollſtaͤndig deutliche Begriffe von dem, was das Eigene dieſer oder jener Vermoͤgen ausmacht, geben koͤnnte. Das Gefuͤhl des Guten, des Schoͤnen, des Anſtaͤndigen iſt doch nichts, ſagt man, als das allge- meine Gefuͤhl der Luſt und des Schmerzens; und ihr Eigenes haͤngt nur davon ab, daß das Grundgefuͤhl durch

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 440. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/470>, abgerufen am 22.11.2024.