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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
die, vergrößert, die aufgewachsenen Vermögen ausma-
chen. Aber welche von den besondern Vermögen der
Menschheit gehören zu jener, welche zu dieser Klasse?
Das ist, wie weit war Anlage dazu in der Natur vor-
handen, oder wie weit bloße Möglichkeit? Und wenn
die Anlage schwach ist, wie weit kann sie heruntergese-
tzet werden, um in eine bloße Möglichkeit überzugehen?
Und wie weit kann bey einem Jndividuum Anlage seyn,
was bey dem andern diesen Namen nicht verdienet?

Jch muß mich sehr irren, oder es fehlet an der Auf-
räumung dieser Begriffe, wenn man noch in der allge-
meinen Vorstellungsart von der Bildung und dem Aus-
wachsen der organisirten Wesen so weit von einander ab-
gehet, als es in dem System der Epigenesis und der
Evolution geschieht, da man sich doch von beiden Sei-
ten die Beobachtungen einräumt, wovon der allgemeine
Begrif abstrahirt werden soll. Dazu kommt, daß un-
entwickelte und nicht völlig bestimmte Begriffe Mißver-
ständnisse veranlassen, und dann nebenher auch falsche
Zusätze, die in dem bloßen Erfahrungsbegriffe nicht lie-
gen, sondern durch Folgerungen aus der Metapher
des Ausdruckes damit verbunden sind, welches desto
leichter geschieht, je mehr die nur einseitige Vorstellung
für eine vollständige gehalten wird. Solche Nebenideen,
einmal für nothwendige Folgen angenommen, verwi-
ckeln die Vernunft in neue Schwierigkeiten. Hievon,
deucht mich, finden sich viele Spuren bey dem bonneti-
schen Entwickelungssystem; und ich hätte mir es allein
darum erlaubt, über diese Hypothese einige Anmerkun-
gen anzuführen, wenn auch die Jdee von der Entwi-
ckelung unsers Körpers weniger mit der Jdee, die man
sich von der Entwickelung der Seele zu machen hat, in
Verbindung stünde, als sie wirklich stehet. Es läßt
sich etwas Aufhellung in dieser von jener erwarten.

Zwee-

und Entwickelung des Menſchen.
die, vergroͤßert, die aufgewachſenen Vermoͤgen ausma-
chen. Aber welche von den beſondern Vermoͤgen der
Menſchheit gehoͤren zu jener, welche zu dieſer Klaſſe?
Das iſt, wie weit war Anlage dazu in der Natur vor-
handen, oder wie weit bloße Moͤglichkeit? Und wenn
die Anlage ſchwach iſt, wie weit kann ſie heruntergeſe-
tzet werden, um in eine bloße Moͤglichkeit uͤberzugehen?
Und wie weit kann bey einem Jndividuum Anlage ſeyn,
was bey dem andern dieſen Namen nicht verdienet?

Jch muß mich ſehr irren, oder es fehlet an der Auf-
raͤumung dieſer Begriffe, wenn man noch in der allge-
meinen Vorſtellungsart von der Bildung und dem Aus-
wachſen der organiſirten Weſen ſo weit von einander ab-
gehet, als es in dem Syſtem der Epigeneſis und der
Evolution geſchieht, da man ſich doch von beiden Sei-
ten die Beobachtungen einraͤumt, wovon der allgemeine
Begrif abſtrahirt werden ſoll. Dazu kommt, daß un-
entwickelte und nicht voͤllig beſtimmte Begriffe Mißver-
ſtaͤndniſſe veranlaſſen, und dann nebenher auch falſche
Zuſaͤtze, die in dem bloßen Erfahrungsbegriffe nicht lie-
gen, ſondern durch Folgerungen aus der Metapher
des Ausdruckes damit verbunden ſind, welches deſto
leichter geſchieht, je mehr die nur einſeitige Vorſtellung
fuͤr eine vollſtaͤndige gehalten wird. Solche Nebenideen,
einmal fuͤr nothwendige Folgen angenommen, verwi-
ckeln die Vernunft in neue Schwierigkeiten. Hievon,
deucht mich, finden ſich viele Spuren bey dem bonneti-
ſchen Entwickelungsſyſtem; und ich haͤtte mir es allein
darum erlaubt, uͤber dieſe Hypotheſe einige Anmerkun-
gen anzufuͤhren, wenn auch die Jdee von der Entwi-
ckelung unſers Koͤrpers weniger mit der Jdee, die man
ſich von der Entwickelung der Seele zu machen hat, in
Verbindung ſtuͤnde, als ſie wirklich ſtehet. Es laͤßt
ſich etwas Aufhellung in dieſer von jener erwarten.

Zwee-
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[447/0477] und Entwickelung des Menſchen. die, vergroͤßert, die aufgewachſenen Vermoͤgen ausma- chen. Aber welche von den beſondern Vermoͤgen der Menſchheit gehoͤren zu jener, welche zu dieſer Klaſſe? Das iſt, wie weit war Anlage dazu in der Natur vor- handen, oder wie weit bloße Moͤglichkeit? Und wenn die Anlage ſchwach iſt, wie weit kann ſie heruntergeſe- tzet werden, um in eine bloße Moͤglichkeit uͤberzugehen? Und wie weit kann bey einem Jndividuum Anlage ſeyn, was bey dem andern dieſen Namen nicht verdienet? Jch muß mich ſehr irren, oder es fehlet an der Auf- raͤumung dieſer Begriffe, wenn man noch in der allge- meinen Vorſtellungsart von der Bildung und dem Aus- wachſen der organiſirten Weſen ſo weit von einander ab- gehet, als es in dem Syſtem der Epigeneſis und der Evolution geſchieht, da man ſich doch von beiden Sei- ten die Beobachtungen einraͤumt, wovon der allgemeine Begrif abſtrahirt werden ſoll. Dazu kommt, daß un- entwickelte und nicht voͤllig beſtimmte Begriffe Mißver- ſtaͤndniſſe veranlaſſen, und dann nebenher auch falſche Zuſaͤtze, die in dem bloßen Erfahrungsbegriffe nicht lie- gen, ſondern durch Folgerungen aus der Metapher des Ausdruckes damit verbunden ſind, welches deſto leichter geſchieht, je mehr die nur einſeitige Vorſtellung fuͤr eine vollſtaͤndige gehalten wird. Solche Nebenideen, einmal fuͤr nothwendige Folgen angenommen, verwi- ckeln die Vernunft in neue Schwierigkeiten. Hievon, deucht mich, finden ſich viele Spuren bey dem bonneti- ſchen Entwickelungsſyſtem; und ich haͤtte mir es allein darum erlaubt, uͤber dieſe Hypotheſe einige Anmerkun- gen anzufuͤhren, wenn auch die Jdee von der Entwi- ckelung unſers Koͤrpers weniger mit der Jdee, die man ſich von der Entwickelung der Seele zu machen hat, in Verbindung ſtuͤnde, als ſie wirklich ſtehet. Es laͤßt ſich etwas Aufhellung in dieſer von jener erwarten. Zwee-

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 447. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/477>, abgerufen am 22.11.2024.