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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
dringen. Wenn der Wachstrieb in einem Keim zwey-
mal so groß ist als in einem andern: so begreife ich,
wie dieselbigen Säfte zweymal so stark und auch weiter
herausgetrieben werden, ehe sie zur Gerinnung gelan-
gen; und wiederum, wenn die Säfte in dem einen
schwerer zu bewegen sind und doppelt so leicht gerinnen:
so begreife ich, wie bey einem gleich großen Triebe in
der Lebenskraft dennoch die Pflanze mehr in der Dicke
als in der Länge wachsen müsse; und endlich, wenn bei-
de, die Kraft und die Gerinnbarkeit der Säfte, ver-
schieden sind, wie davon nothwendig ein geschwinderes
oder langsameres Wachsen, entweder mehr in der Weite
als in der Länge, oder umgekehrt, abhange, und also
auch Mannichfaltigkeiten in der Form der hervorgetrie-
benen Theile erzeuget werden können und müssen. So
weit hat Hr. Wolf, aus diesen beiden Stücken, viele
Verschiedenheiten in den Figuren der Pflanzen ganz
wohl begreiflich gemacht. Denn wie sollte sich nicht
aus solchen zween wichtigen Bestandtheilen der ganzen zu-
reichenden Ursache sehr vieles in ihrer Wirkung erklä-
ren lassen! Allein, wenn nun die Säfte aus dem Ve-
getationspunkt in einer Pflanze mehr nach der einen
Seite hin, mehr in einer Richtung, als in einer andern
hervorgehen, mehr Neigung haben sich auf diese Art zu-
sammenzulegen, als auf eine andere? Woher die-
ses, und warum sind diese Richtungen, die der Wachs-
trieb nimmt, nicht bey allen Pflanzen dieselbigen? Ent-
weder ist davon der Grund in den äußern Dingen, die
den Keim umgeben, in seiner Lage gegen andere Körper,
die dem Ergießen der Säfte in einer Richtung mehr
widerstehen als in einer andern, wie z. B. die Pflan-
zen sich von den Gegenden abwenden, wo ihnen der freye
Zugang der Luft und des Lichts verwehret ist; *) oder
man muß zu der Figur des Vegetationspunktes, aus dem

der
*) Bonnet sur l' usage des feuilles.

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
dringen. Wenn der Wachstrieb in einem Keim zwey-
mal ſo groß iſt als in einem andern: ſo begreife ich,
wie dieſelbigen Saͤfte zweymal ſo ſtark und auch weiter
herausgetrieben werden, ehe ſie zur Gerinnung gelan-
gen; und wiederum, wenn die Saͤfte in dem einen
ſchwerer zu bewegen ſind und doppelt ſo leicht gerinnen:
ſo begreife ich, wie bey einem gleich großen Triebe in
der Lebenskraft dennoch die Pflanze mehr in der Dicke
als in der Laͤnge wachſen muͤſſe; und endlich, wenn bei-
de, die Kraft und die Gerinnbarkeit der Saͤfte, ver-
ſchieden ſind, wie davon nothwendig ein geſchwinderes
oder langſameres Wachſen, entweder mehr in der Weite
als in der Laͤnge, oder umgekehrt, abhange, und alſo
auch Mannichfaltigkeiten in der Form der hervorgetrie-
benen Theile erzeuget werden koͤnnen und muͤſſen. So
weit hat Hr. Wolf, aus dieſen beiden Stuͤcken, viele
Verſchiedenheiten in den Figuren der Pflanzen ganz
wohl begreiflich gemacht. Denn wie ſollte ſich nicht
aus ſolchen zween wichtigen Beſtandtheilen der ganzen zu-
reichenden Urſache ſehr vieles in ihrer Wirkung erklaͤ-
ren laſſen! Allein, wenn nun die Saͤfte aus dem Ve-
getationspunkt in einer Pflanze mehr nach der einen
Seite hin, mehr in einer Richtung, als in einer andern
hervorgehen, mehr Neigung haben ſich auf dieſe Art zu-
ſammenzulegen, als auf eine andere? Woher die-
ſes, und warum ſind dieſe Richtungen, die der Wachs-
trieb nimmt, nicht bey allen Pflanzen dieſelbigen? Ent-
weder iſt davon der Grund in den aͤußern Dingen, die
den Keim umgeben, in ſeiner Lage gegen andere Koͤrper,
die dem Ergießen der Saͤfte in einer Richtung mehr
widerſtehen als in einer andern, wie z. B. die Pflan-
zen ſich von den Gegenden abwenden, wo ihnen der freye
Zugang der Luft und des Lichts verwehret iſt; *) oder
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der
*) Bonnet ſur l’ uſage des feuilles.
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[462/0492] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt dringen. Wenn der Wachstrieb in einem Keim zwey- mal ſo groß iſt als in einem andern: ſo begreife ich, wie dieſelbigen Saͤfte zweymal ſo ſtark und auch weiter herausgetrieben werden, ehe ſie zur Gerinnung gelan- gen; und wiederum, wenn die Saͤfte in dem einen ſchwerer zu bewegen ſind und doppelt ſo leicht gerinnen: ſo begreife ich, wie bey einem gleich großen Triebe in der Lebenskraft dennoch die Pflanze mehr in der Dicke als in der Laͤnge wachſen muͤſſe; und endlich, wenn bei- de, die Kraft und die Gerinnbarkeit der Saͤfte, ver- ſchieden ſind, wie davon nothwendig ein geſchwinderes oder langſameres Wachſen, entweder mehr in der Weite als in der Laͤnge, oder umgekehrt, abhange, und alſo auch Mannichfaltigkeiten in der Form der hervorgetrie- benen Theile erzeuget werden koͤnnen und muͤſſen. So weit hat Hr. Wolf, aus dieſen beiden Stuͤcken, viele Verſchiedenheiten in den Figuren der Pflanzen ganz wohl begreiflich gemacht. Denn wie ſollte ſich nicht aus ſolchen zween wichtigen Beſtandtheilen der ganzen zu- reichenden Urſache ſehr vieles in ihrer Wirkung erklaͤ- ren laſſen! Allein, wenn nun die Saͤfte aus dem Ve- getationspunkt in einer Pflanze mehr nach der einen Seite hin, mehr in einer Richtung, als in einer andern hervorgehen, mehr Neigung haben ſich auf dieſe Art zu- ſammenzulegen, als auf eine andere? Woher die- ſes, und warum ſind dieſe Richtungen, die der Wachs- trieb nimmt, nicht bey allen Pflanzen dieſelbigen? Ent- weder iſt davon der Grund in den aͤußern Dingen, die den Keim umgeben, in ſeiner Lage gegen andere Koͤrper, die dem Ergießen der Saͤfte in einer Richtung mehr widerſtehen als in einer andern, wie z. B. die Pflan- zen ſich von den Gegenden abwenden, wo ihnen der freye Zugang der Luft und des Lichts verwehret iſt; *) oder man muß zu der Figur des Vegetationspunktes, aus dem der *) Bonnet ſur l’ uſage des feuilles.

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/492>, abgerufen am 22.11.2024.