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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XII. Versuch. Ueber die Selbstthätigkeit
ner Gewalt ist, im Spazierengehen still zu stehen, oder
einen andern Weg zu nehmen. Unter unsern Vorstel-
lungs- und Denkthätigkeiten giebt es solche, über die
wir unmittelbar Herr sind, sowohl als unter den Aeuße-
rungen der thätigen Kraft, welche neue Modifikationen
in uns und außer uns hervorbringet.

Einige Philosophen haben die Freyheit auf den
Willen eingeschränkt; andere lassen auch der Erkennt-
nißkraft diese Beschaffenheit; und einige haben noch ge-
nauer die Stelle in der Seele angegeben, wo sie sitzen
solle, da sie nur allein das Vermögen aufmerksam
zu seyn,
das ist, das Vermögen, die vorstellende und
denkende Kraft auf einen Gegenstand hinzuwenden, für
ein freyes Vermögen erklären, und es die Willkühr
nennen. Dieß letztere heißt so viel, als die Freyheit in
dasjenige Vermögen hinsetzen, welches an der Spitze
aller übrigen stehet, womit die Seele ein Objekt bear-
beitet. Denn sie richtet zuvörderst ihr Gefühl und vor-
stellende Kraft darauf, und hierauf entstehet ein Ein-
druck, eine Vorstellung, und eine Jdee von der Sache:
dann folget ein Gefallen oder Mißfallen, und diese Af-
fektion reizet die begehrende Kraft zu einer Neigung
auf das Objekt, oder zum Widerwillen gegen das-
selbe.

Wenn es darauf ankommt, systemmäßig sich aus-
zudrücken, so kann jedwede dieser beiden Behauptungen
vertheidiget werden, je nachdem man die Erklärungen
der Worte, und die künstlichen Klassifikationen der See-
lenvermögen einrichtet. Wer so, wie Herr Search,
alle Selbstbestimmungen, alle Bestrebungen, Thätigkei-
ten und Handlungen, das ist, alles, was eine Aeuße-
rung der wirksamen Kraft der Seele ist, für eine Wir-
kung des Willens erkläret, hat ohne Streit nicht un-
recht, wenn er die Freyheit allein dem Willen beyleget,
und dem Verstande abspricht. Denn bey dieser Abthei-

lung

XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
ner Gewalt iſt, im Spazierengehen ſtill zu ſtehen, oder
einen andern Weg zu nehmen. Unter unſern Vorſtel-
lungs- und Denkthaͤtigkeiten giebt es ſolche, uͤber die
wir unmittelbar Herr ſind, ſowohl als unter den Aeuße-
rungen der thaͤtigen Kraft, welche neue Modifikationen
in uns und außer uns hervorbringet.

Einige Philoſophen haben die Freyheit auf den
Willen eingeſchraͤnkt; andere laſſen auch der Erkennt-
nißkraft dieſe Beſchaffenheit; und einige haben noch ge-
nauer die Stelle in der Seele angegeben, wo ſie ſitzen
ſolle, da ſie nur allein das Vermoͤgen aufmerkſam
zu ſeyn,
das iſt, das Vermoͤgen, die vorſtellende und
denkende Kraft auf einen Gegenſtand hinzuwenden, fuͤr
ein freyes Vermoͤgen erklaͤren, und es die Willkuͤhr
nennen. Dieß letztere heißt ſo viel, als die Freyheit in
dasjenige Vermoͤgen hinſetzen, welches an der Spitze
aller uͤbrigen ſtehet, womit die Seele ein Objekt bear-
beitet. Denn ſie richtet zuvoͤrderſt ihr Gefuͤhl und vor-
ſtellende Kraft darauf, und hierauf entſtehet ein Ein-
druck, eine Vorſtellung, und eine Jdee von der Sache:
dann folget ein Gefallen oder Mißfallen, und dieſe Af-
fektion reizet die begehrende Kraft zu einer Neigung
auf das Objekt, oder zum Widerwillen gegen daſ-
ſelbe.

Wenn es darauf ankommt, ſyſtemmaͤßig ſich aus-
zudruͤcken, ſo kann jedwede dieſer beiden Behauptungen
vertheidiget werden, je nachdem man die Erklaͤrungen
der Worte, und die kuͤnſtlichen Klaſſifikationen der See-
lenvermoͤgen einrichtet. Wer ſo, wie Herr Search,
alle Selbſtbeſtimmungen, alle Beſtrebungen, Thaͤtigkei-
ten und Handlungen, das iſt, alles, was eine Aeuße-
rung der wirkſamen Kraft der Seele iſt, fuͤr eine Wir-
kung des Willens erklaͤret, hat ohne Streit nicht un-
recht, wenn er die Freyheit allein dem Willen beyleget,
und dem Verſtande abſpricht. Denn bey dieſer Abthei-

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[20/0050] XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit ner Gewalt iſt, im Spazierengehen ſtill zu ſtehen, oder einen andern Weg zu nehmen. Unter unſern Vorſtel- lungs- und Denkthaͤtigkeiten giebt es ſolche, uͤber die wir unmittelbar Herr ſind, ſowohl als unter den Aeuße- rungen der thaͤtigen Kraft, welche neue Modifikationen in uns und außer uns hervorbringet. Einige Philoſophen haben die Freyheit auf den Willen eingeſchraͤnkt; andere laſſen auch der Erkennt- nißkraft dieſe Beſchaffenheit; und einige haben noch ge- nauer die Stelle in der Seele angegeben, wo ſie ſitzen ſolle, da ſie nur allein das Vermoͤgen aufmerkſam zu ſeyn, das iſt, das Vermoͤgen, die vorſtellende und denkende Kraft auf einen Gegenſtand hinzuwenden, fuͤr ein freyes Vermoͤgen erklaͤren, und es die Willkuͤhr nennen. Dieß letztere heißt ſo viel, als die Freyheit in dasjenige Vermoͤgen hinſetzen, welches an der Spitze aller uͤbrigen ſtehet, womit die Seele ein Objekt bear- beitet. Denn ſie richtet zuvoͤrderſt ihr Gefuͤhl und vor- ſtellende Kraft darauf, und hierauf entſtehet ein Ein- druck, eine Vorſtellung, und eine Jdee von der Sache: dann folget ein Gefallen oder Mißfallen, und dieſe Af- fektion reizet die begehrende Kraft zu einer Neigung auf das Objekt, oder zum Widerwillen gegen daſ- ſelbe. Wenn es darauf ankommt, ſyſtemmaͤßig ſich aus- zudruͤcken, ſo kann jedwede dieſer beiden Behauptungen vertheidiget werden, je nachdem man die Erklaͤrungen der Worte, und die kuͤnſtlichen Klaſſifikationen der See- lenvermoͤgen einrichtet. Wer ſo, wie Herr Search, alle Selbſtbeſtimmungen, alle Beſtrebungen, Thaͤtigkei- ten und Handlungen, das iſt, alles, was eine Aeuße- rung der wirkſamen Kraft der Seele iſt, fuͤr eine Wir- kung des Willens erklaͤret, hat ohne Streit nicht un- recht, wenn er die Freyheit allein dem Willen beyleget, und dem Verſtande abſpricht. Denn bey dieſer Abthei- lung

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/50>, abgerufen am 21.11.2024.