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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
vor allen übrigen zu den wesentlichen Formen und
zu denen, welche allein und vollkommen durch die Orga-
nisation des Keims bestimmt sind. Theile, die keinem
menschlichen Wesen, auch den Mißgeburten nicht, ge-
fehlet haben und fehlen können, sind ohne Widerrede
wesentliche Formen. Welche Theile gehören aber
hieher in dem menschlichen Körper? Dieß würde durch
die Vergleichung zu bestimmen seyn. Das Herz und
dessen Trieb ist nach dem Urtheil des größten Körper-
kenners, des Hrn. von Haller, *) schlechthin unentbehr-
lich zur Entwickelung der Frucht. Das Herz gehört
also zu den ersten wesentlichen Formen des Keims vom
menschlichen Körper.

Allein nach einer neuern Beobachtung einer sieben-
monatlichen Mißgeburt, **) welche zu Halle im Jenner
1775 ohne Hals, Brust, Arme, Herz, Luftröhre,
Lunge, Zwerchfell, Leber, Milz, Nieren, zur Welt
gekommen ist, scheinet es, als wenn auch nicht einmal
ein Herz, so wenig als irgend einer dieser Theile, so
schlechterdings nothwendig in dem Jnnern des Keims
bestimmt sey, daß keine Entwickelung ohne in solche For-
men statt finden könne. Eine vollkommene Entwicke-
lung kann nicht ohne sie seyn.

Man
*) Memoire II. sur le poulet. Sect. IV.
**) Der Verfasser der Beschreibung dieser Mißgeburt,
welche 1776 zu Leipzig bey Böhmen herausgekommen
ist, meinet, daß sie vielleicht noch wohl habe leben
können. Dieß ist schwer zu glauben. Er zieht auch
noch andere Folgen daraus gegen das Evolutions-
system, die damit eben so vereiniget werden können,
wie die übrigen Erfahrungen von Mißgeburten. Man
wird freylich der Epigenesis geneigt, wenn man diese
betrachtet: aber dennoch kann die letztere nicht völlig
dadurch bewiesen werden. Hr. Bonnet weis auch die
Mißgeburten aus der Evolution zu erklären.

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
vor allen uͤbrigen zu den weſentlichen Formen und
zu denen, welche allein und vollkommen durch die Orga-
niſation des Keims beſtimmt ſind. Theile, die keinem
menſchlichen Weſen, auch den Mißgeburten nicht, ge-
fehlet haben und fehlen koͤnnen, ſind ohne Widerrede
weſentliche Formen. Welche Theile gehoͤren aber
hieher in dem menſchlichen Koͤrper? Dieß wuͤrde durch
die Vergleichung zu beſtimmen ſeyn. Das Herz und
deſſen Trieb iſt nach dem Urtheil des groͤßten Koͤrper-
kenners, des Hrn. von Haller, *) ſchlechthin unentbehr-
lich zur Entwickelung der Frucht. Das Herz gehoͤrt
alſo zu den erſten weſentlichen Formen des Keims vom
menſchlichen Koͤrper.

Allein nach einer neuern Beobachtung einer ſieben-
monatlichen Mißgeburt, **) welche zu Halle im Jenner
1775 ohne Hals, Bruſt, Arme, Herz, Luftroͤhre,
Lunge, Zwerchfell, Leber, Milz, Nieren, zur Welt
gekommen iſt, ſcheinet es, als wenn auch nicht einmal
ein Herz, ſo wenig als irgend einer dieſer Theile, ſo
ſchlechterdings nothwendig in dem Jnnern des Keims
beſtimmt ſey, daß keine Entwickelung ohne in ſolche For-
men ſtatt finden koͤnne. Eine vollkommene Entwicke-
lung kann nicht ohne ſie ſeyn.

Man
*) Memoire II. ſur le poulet. Sect. IV.
**) Der Verfaſſer der Beſchreibung dieſer Mißgeburt,
welche 1776 zu Leipzig bey Boͤhmen herausgekommen
iſt, meinet, daß ſie vielleicht noch wohl habe leben
koͤnnen. Dieß iſt ſchwer zu glauben. Er zieht auch
noch andere Folgen daraus gegen das Evolutions-
ſyſtem, die damit eben ſo vereiniget werden koͤnnen,
wie die uͤbrigen Erfahrungen von Mißgeburten. Man
wird freylich der Epigeneſis geneigt, wenn man dieſe
betrachtet: aber dennoch kann die letztere nicht voͤllig
dadurch bewieſen werden. Hr. Bonnet weis auch die
Mißgeburten aus der Evolution zu erklaͤren.
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[524/0554] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt vor allen uͤbrigen zu den weſentlichen Formen und zu denen, welche allein und vollkommen durch die Orga- niſation des Keims beſtimmt ſind. Theile, die keinem menſchlichen Weſen, auch den Mißgeburten nicht, ge- fehlet haben und fehlen koͤnnen, ſind ohne Widerrede weſentliche Formen. Welche Theile gehoͤren aber hieher in dem menſchlichen Koͤrper? Dieß wuͤrde durch die Vergleichung zu beſtimmen ſeyn. Das Herz und deſſen Trieb iſt nach dem Urtheil des groͤßten Koͤrper- kenners, des Hrn. von Haller, *) ſchlechthin unentbehr- lich zur Entwickelung der Frucht. Das Herz gehoͤrt alſo zu den erſten weſentlichen Formen des Keims vom menſchlichen Koͤrper. Allein nach einer neuern Beobachtung einer ſieben- monatlichen Mißgeburt, **) welche zu Halle im Jenner 1775 ohne Hals, Bruſt, Arme, Herz, Luftroͤhre, Lunge, Zwerchfell, Leber, Milz, Nieren, zur Welt gekommen iſt, ſcheinet es, als wenn auch nicht einmal ein Herz, ſo wenig als irgend einer dieſer Theile, ſo ſchlechterdings nothwendig in dem Jnnern des Keims beſtimmt ſey, daß keine Entwickelung ohne in ſolche For- men ſtatt finden koͤnne. Eine vollkommene Entwicke- lung kann nicht ohne ſie ſeyn. Man *) Memoire II. ſur le poulet. Sect. IV. **) Der Verfaſſer der Beſchreibung dieſer Mißgeburt, welche 1776 zu Leipzig bey Boͤhmen herausgekommen iſt, meinet, daß ſie vielleicht noch wohl habe leben koͤnnen. Dieß iſt ſchwer zu glauben. Er zieht auch noch andere Folgen daraus gegen das Evolutions- ſyſtem, die damit eben ſo vereiniget werden koͤnnen, wie die uͤbrigen Erfahrungen von Mißgeburten. Man wird freylich der Epigeneſis geneigt, wenn man dieſe betrachtet: aber dennoch kann die letztere nicht voͤllig dadurch bewieſen werden. Hr. Bonnet weis auch die Mißgeburten aus der Evolution zu erklaͤren.

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 524. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/554>, abgerufen am 26.06.2024.