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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.

Jndessen würde es dennoch nicht ganz unerklärbar
seyn, wenn etwa auf einer abgesonderten Jnsel oder
in einem Lande, dessen Bewohner sich nie mit andern
vermischt haben, eine Eigenheit bey den Bewohnern
gefunden werden sollte, die von keiner der allgemeinen
äußern Ursachen abhänget. Was man z. B. von den
geschwärzten Menschen, auf der Jnsel Formosa und an-
derswo, erzählet, mag übertrieben seyn, wofür ichs hal-
te; aber mich deucht doch, man habe keine Gründe, die-
se Nachrichten insgesammt für Fabeln zu erklären. *)
Es ist ganz wohl möglich, daß eine ungewöhnliche Ver-
längerung des hintern Knochens in einer Familie durch
einen Zufall, wie sechs Finger an den Händen, entstan-
den sey, und daß eine solche Abweichung sich verbreitet
und erhalten habe, wenn diese Familie ohne Vermi-
schung mit andern zu einem kleinen Volke gewachsen ist.
Sie hätte sich durch eine Verbindung mit fremden all-
mälig wieder verlieren müssen. Ueberhaupt machen
solche Beyspiele keine große Ausnahme von der obigen
Regel, daß Abweichungen, die national werden, in
allgemeinen äußern Ursachen einen Grund haben müssen,
die solche befördern und erhalten.

Es ist nicht schwer aus diesen äußern Ursachen zu
erklären, wie die Verschiedenheiten zuerst entstanden
sind, noch auch, wie sie von Geschlecht zu Geschlecht
fortgehen, wenn die ersten Ursachen fortwirken. Aber
eine Schwierigkeit ist übrig. Wie, wenn die Ursachen
weggenommen werden? Wenn die Familie, bey de-
nen sie entstanden sind, in ein anderes Klima und in ei-
ne andere Lebensart versetzet, und ihre Kost verändert
wird? Man könnte sich vielleicht darauf berufen, daß
solche Eigenheiten nicht so leicht vergehen als entstehen;

daß
*) Blumenbach am angez. Orte S. 93. Es sind einige
Zeugnisse darunter von Gewicht.
und Entwickelung des Menſchen.

Jndeſſen wuͤrde es dennoch nicht ganz unerklaͤrbar
ſeyn, wenn etwa auf einer abgeſonderten Jnſel oder
in einem Lande, deſſen Bewohner ſich nie mit andern
vermiſcht haben, eine Eigenheit bey den Bewohnern
gefunden werden ſollte, die von keiner der allgemeinen
aͤußern Urſachen abhaͤnget. Was man z. B. von den
geſchwaͤrzten Menſchen, auf der Jnſel Formoſa und an-
derswo, erzaͤhlet, mag uͤbertrieben ſeyn, wofuͤr ichs hal-
te; aber mich deucht doch, man habe keine Gruͤnde, die-
ſe Nachrichten insgeſammt fuͤr Fabeln zu erklaͤren. *)
Es iſt ganz wohl moͤglich, daß eine ungewoͤhnliche Ver-
laͤngerung des hintern Knochens in einer Familie durch
einen Zufall, wie ſechs Finger an den Haͤnden, entſtan-
den ſey, und daß eine ſolche Abweichung ſich verbreitet
und erhalten habe, wenn dieſe Familie ohne Vermi-
ſchung mit andern zu einem kleinen Volke gewachſen iſt.
Sie haͤtte ſich durch eine Verbindung mit fremden all-
maͤlig wieder verlieren muͤſſen. Ueberhaupt machen
ſolche Beyſpiele keine große Ausnahme von der obigen
Regel, daß Abweichungen, die national werden, in
allgemeinen aͤußern Urſachen einen Grund haben muͤſſen,
die ſolche befoͤrdern und erhalten.

Es iſt nicht ſchwer aus dieſen aͤußern Urſachen zu
erklaͤren, wie die Verſchiedenheiten zuerſt entſtanden
ſind, noch auch, wie ſie von Geſchlecht zu Geſchlecht
fortgehen, wenn die erſten Urſachen fortwirken. Aber
eine Schwierigkeit iſt uͤbrig. Wie, wenn die Urſachen
weggenommen werden? Wenn die Familie, bey de-
nen ſie entſtanden ſind, in ein anderes Klima und in ei-
ne andere Lebensart verſetzet, und ihre Koſt veraͤndert
wird? Man koͤnnte ſich vielleicht darauf berufen, daß
ſolche Eigenheiten nicht ſo leicht vergehen als entſtehen;

daß
*) Blumenbach am angez. Orte S. 93. Es ſind einige
Zeugniſſe darunter von Gewicht.
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[575/0605] und Entwickelung des Menſchen. Jndeſſen wuͤrde es dennoch nicht ganz unerklaͤrbar ſeyn, wenn etwa auf einer abgeſonderten Jnſel oder in einem Lande, deſſen Bewohner ſich nie mit andern vermiſcht haben, eine Eigenheit bey den Bewohnern gefunden werden ſollte, die von keiner der allgemeinen aͤußern Urſachen abhaͤnget. Was man z. B. von den geſchwaͤrzten Menſchen, auf der Jnſel Formoſa und an- derswo, erzaͤhlet, mag uͤbertrieben ſeyn, wofuͤr ichs hal- te; aber mich deucht doch, man habe keine Gruͤnde, die- ſe Nachrichten insgeſammt fuͤr Fabeln zu erklaͤren. *) Es iſt ganz wohl moͤglich, daß eine ungewoͤhnliche Ver- laͤngerung des hintern Knochens in einer Familie durch einen Zufall, wie ſechs Finger an den Haͤnden, entſtan- den ſey, und daß eine ſolche Abweichung ſich verbreitet und erhalten habe, wenn dieſe Familie ohne Vermi- ſchung mit andern zu einem kleinen Volke gewachſen iſt. Sie haͤtte ſich durch eine Verbindung mit fremden all- maͤlig wieder verlieren muͤſſen. Ueberhaupt machen ſolche Beyſpiele keine große Ausnahme von der obigen Regel, daß Abweichungen, die national werden, in allgemeinen aͤußern Urſachen einen Grund haben muͤſſen, die ſolche befoͤrdern und erhalten. Es iſt nicht ſchwer aus dieſen aͤußern Urſachen zu erklaͤren, wie die Verſchiedenheiten zuerſt entſtanden ſind, noch auch, wie ſie von Geſchlecht zu Geſchlecht fortgehen, wenn die erſten Urſachen fortwirken. Aber eine Schwierigkeit iſt uͤbrig. Wie, wenn die Urſachen weggenommen werden? Wenn die Familie, bey de- nen ſie entſtanden ſind, in ein anderes Klima und in ei- ne andere Lebensart verſetzet, und ihre Koſt veraͤndert wird? Man koͤnnte ſich vielleicht darauf berufen, daß ſolche Eigenheiten nicht ſo leicht vergehen als entſtehen; daß *) Blumenbach am angez. Orte S. 93. Es ſind einige Zeugniſſe darunter von Gewicht.

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 575. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/605>, abgerufen am 22.11.2024.