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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
hier zuerst einen festen Punkt. Das ist dieser: wenn
sich die äußern Ursachen alle zusammen gegen die Na-
tur vereinigen, so muß sie unterliegen. Die Krank-
heit, wie die Gesundheit, eines Kindes von Jugend auf
gehöret ebenfalls dahin. Krankheiten können auch die
Moren weiß machen. Wenn die Natur der Seele so
stark in ihren Eigenheiten bestimmt ist, als die Farbe
der Haut, so will ich nicht läugnen, daß, um sie zu ver-
ändern, nicht zuweilen besondere Ursachen wirken müß-
ten. Sie ist in Hinsicht ihrer Formen, die sie annimmt,
was die Disposition der Oberfläche der Körper in Hin-
sicht ihrer verschiedenen Farben ist, womit sie erschei-
nen. Jn dem bloß rothen Lichte ist jeder Körper roth,
in dem blauen blau, nur nicht in gleichem Grade der
Lebhaftigkeit und Stärke. Aber wenn das Licht aller
Arten zugleich auffällt, so wirft der Scharlach die ro-
then, und der Jndigo die blauen Stralen so vorzüg-
lich zurück, daß man nur allein diese gewahr wird.
Eben so verhält sich die Menschheit in dem Kinde in
Hinsicht der äußern Umstände.

Da haben wir zugleich die Ursachen, warum der
angeborne Charakter so selten, oder fast niemals, un-
kenntlich gemacht wird, besonders in denen, wo er sich
an Stärke ausnimmt. Die physischen Umstände, wel-
che auf die Naturkraft wirken, sind fast überall, was
das zusammengesetzte Sonnenlicht für die gefärbten
Körper ist, das alle Arten von Stralen enthält. Der
bloße Gebrauch der Sinne, in der Gesellschaft mit Men-
schen, giebt Nahrungssäfte für fast alle angeborne See-
lenvermögen, und gewährt dem einen wie dem andern
eine Gelegenheit zu wirken, sich zu üben und zu stär-
ken. Das Genie bricht hervor bey den mindesten Ver-
anlassungen; bey jedem Volke unter jedem Himmels-
striche auf eine eigene Art. Nun mag die Anführung
und das Beyspiel anderer, die man ihm zum Muster

vorhält,

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
hier zuerſt einen feſten Punkt. Das iſt dieſer: wenn
ſich die aͤußern Urſachen alle zuſammen gegen die Na-
tur vereinigen, ſo muß ſie unterliegen. Die Krank-
heit, wie die Geſundheit, eines Kindes von Jugend auf
gehoͤret ebenfalls dahin. Krankheiten koͤnnen auch die
Moren weiß machen. Wenn die Natur der Seele ſo
ſtark in ihren Eigenheiten beſtimmt iſt, als die Farbe
der Haut, ſo will ich nicht laͤugnen, daß, um ſie zu ver-
aͤndern, nicht zuweilen beſondere Urſachen wirken muͤß-
ten. Sie iſt in Hinſicht ihrer Formen, die ſie annimmt,
was die Diſpoſition der Oberflaͤche der Koͤrper in Hin-
ſicht ihrer verſchiedenen Farben iſt, womit ſie erſchei-
nen. Jn dem bloß rothen Lichte iſt jeder Koͤrper roth,
in dem blauen blau, nur nicht in gleichem Grade der
Lebhaftigkeit und Staͤrke. Aber wenn das Licht aller
Arten zugleich auffaͤllt, ſo wirft der Scharlach die ro-
then, und der Jndigo die blauen Stralen ſo vorzuͤg-
lich zuruͤck, daß man nur allein dieſe gewahr wird.
Eben ſo verhaͤlt ſich die Menſchheit in dem Kinde in
Hinſicht der aͤußern Umſtaͤnde.

Da haben wir zugleich die Urſachen, warum der
angeborne Charakter ſo ſelten, oder faſt niemals, un-
kenntlich gemacht wird, beſonders in denen, wo er ſich
an Staͤrke ausnimmt. Die phyſiſchen Umſtaͤnde, wel-
che auf die Naturkraft wirken, ſind faſt uͤberall, was
das zuſammengeſetzte Sonnenlicht fuͤr die gefaͤrbten
Koͤrper iſt, das alle Arten von Stralen enthaͤlt. Der
bloße Gebrauch der Sinne, in der Geſellſchaft mit Men-
ſchen, giebt Nahrungsſaͤfte fuͤr faſt alle angeborne See-
lenvermoͤgen, und gewaͤhrt dem einen wie dem andern
eine Gelegenheit zu wirken, ſich zu uͤben und zu ſtaͤr-
ken. Das Genie bricht hervor bey den mindeſten Ver-
anlaſſungen; bey jedem Volke unter jedem Himmels-
ſtriche auf eine eigene Art. Nun mag die Anfuͤhrung
und das Beyſpiel anderer, die man ihm zum Muſter

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[594/0624] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt hier zuerſt einen feſten Punkt. Das iſt dieſer: wenn ſich die aͤußern Urſachen alle zuſammen gegen die Na- tur vereinigen, ſo muß ſie unterliegen. Die Krank- heit, wie die Geſundheit, eines Kindes von Jugend auf gehoͤret ebenfalls dahin. Krankheiten koͤnnen auch die Moren weiß machen. Wenn die Natur der Seele ſo ſtark in ihren Eigenheiten beſtimmt iſt, als die Farbe der Haut, ſo will ich nicht laͤugnen, daß, um ſie zu ver- aͤndern, nicht zuweilen beſondere Urſachen wirken muͤß- ten. Sie iſt in Hinſicht ihrer Formen, die ſie annimmt, was die Diſpoſition der Oberflaͤche der Koͤrper in Hin- ſicht ihrer verſchiedenen Farben iſt, womit ſie erſchei- nen. Jn dem bloß rothen Lichte iſt jeder Koͤrper roth, in dem blauen blau, nur nicht in gleichem Grade der Lebhaftigkeit und Staͤrke. Aber wenn das Licht aller Arten zugleich auffaͤllt, ſo wirft der Scharlach die ro- then, und der Jndigo die blauen Stralen ſo vorzuͤg- lich zuruͤck, daß man nur allein dieſe gewahr wird. Eben ſo verhaͤlt ſich die Menſchheit in dem Kinde in Hinſicht der aͤußern Umſtaͤnde. Da haben wir zugleich die Urſachen, warum der angeborne Charakter ſo ſelten, oder faſt niemals, un- kenntlich gemacht wird, beſonders in denen, wo er ſich an Staͤrke ausnimmt. Die phyſiſchen Umſtaͤnde, wel- che auf die Naturkraft wirken, ſind faſt uͤberall, was das zuſammengeſetzte Sonnenlicht fuͤr die gefaͤrbten Koͤrper iſt, das alle Arten von Stralen enthaͤlt. Der bloße Gebrauch der Sinne, in der Geſellſchaft mit Men- ſchen, giebt Nahrungsſaͤfte fuͤr faſt alle angeborne See- lenvermoͤgen, und gewaͤhrt dem einen wie dem andern eine Gelegenheit zu wirken, ſich zu uͤben und zu ſtaͤr- ken. Das Genie bricht hervor bey den mindeſten Ver- anlaſſungen; bey jedem Volke unter jedem Himmels- ſtriche auf eine eigene Art. Nun mag die Anfuͤhrung und das Beyſpiel anderer, die man ihm zum Muſter vorhaͤlt,

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 594. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/624>, abgerufen am 22.11.2024.