Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.und Entwickelung des Menschen. gelegt ist, das Herz mit Empfindungen zu erfüllen.Wer kann, nach Popes starker Erinnerung, die Sce- nen der Menschheit durchwandern und bey dieser er- staunlichen Mannichfaltigkeit der Gestalten und Formen, in welchen die menschliche Natur in den wirklichen Men- schen geleitet, gelocket, getrieben oder gezwungen ist, den Blick so festhalten, daß die Ueberlegung nicht durch die allenthalben her sich aufdringenden Empfindungen ir- re werde? Wenn man in dieser großen Sphäre auf- suchen will, was hoch und niedrig, gerade und schief, Schein und Wahrheit, hochachtungswürdig und ver- ächtlich, des Wünschens und Verwünschens werth ist, und Menschen mit Menschen in dieser Hinsicht vergleicht: so wird man ihre Unterschiede groß oder klein, wichtig oder unwichtig finden, je nachdem der Standort niedri- ger oder höher ist, aus dem man sie übersiehet. An- fangs scheinet der Vorzug des Menschen vor dem Men- schen unübersehlich, so lange die Aussicht noch sehr ein- geschränkt ist. Nehmen wir die Stellung höher, so wird er geringer; und noch weiter hinauf, so ist das ganze Geschlecht ein Jnsektenhaufe, den man in der Ferne sieht, wo die Vorzüge und Unterschiede der Jndividuen verschwinden. Es giebt endlich eine mittlere Stelle, wo diese Verhältnisse uns so vorkommen, wie sie müssen, wenn unsere Wünsche und Bestrebungen in dem Grade der Stärke und Thätigkeit erhalten werden sollen, die unsere Bestimmung erfodert. Es ist über- flüßig zu erinnern, wie verschieden der Maßstab, die Wage und die Gläßer sind, wornach hiebey geurthei- let werden kann. Welches sind denn die richtigen? Denn mit solchen sollte doch die überlegende Vernunft versehen seyn. Der kühnen Einbildungskraft des Dich- ters, im Pope und im Antipope, mag man es erlauben, nach dem bloßen Gefühl zu urtheilen. Können wir den bestimmten Maßstab zu menschlichen Vollkommenheiten nicht R r 5
und Entwickelung des Menſchen. gelegt iſt, das Herz mit Empfindungen zu erfuͤllen.Wer kann, nach Popes ſtarker Erinnerung, die Sce- nen der Menſchheit durchwandern und bey dieſer er- ſtaunlichen Mannichfaltigkeit der Geſtalten und Formen, in welchen die menſchliche Natur in den wirklichen Men- ſchen geleitet, gelocket, getrieben oder gezwungen iſt, den Blick ſo feſthalten, daß die Ueberlegung nicht durch die allenthalben her ſich aufdringenden Empfindungen ir- re werde? Wenn man in dieſer großen Sphaͤre auf- ſuchen will, was hoch und niedrig, gerade und ſchief, Schein und Wahrheit, hochachtungswuͤrdig und ver- aͤchtlich, des Wuͤnſchens und Verwuͤnſchens werth iſt, und Menſchen mit Menſchen in dieſer Hinſicht vergleicht: ſo wird man ihre Unterſchiede groß oder klein, wichtig oder unwichtig finden, je nachdem der Standort niedri- ger oder hoͤher iſt, aus dem man ſie uͤberſiehet. An- fangs ſcheinet der Vorzug des Menſchen vor dem Men- ſchen unuͤberſehlich, ſo lange die Ausſicht noch ſehr ein- geſchraͤnkt iſt. Nehmen wir die Stellung hoͤher, ſo wird er geringer; und noch weiter hinauf, ſo iſt das ganze Geſchlecht ein Jnſektenhaufe, den man in der Ferne ſieht, wo die Vorzuͤge und Unterſchiede der Jndividuen verſchwinden. Es giebt endlich eine mittlere Stelle, wo dieſe Verhaͤltniſſe uns ſo vorkommen, wie ſie muͤſſen, wenn unſere Wuͤnſche und Beſtrebungen in dem Grade der Staͤrke und Thaͤtigkeit erhalten werden ſollen, die unſere Beſtimmung erfodert. Es iſt uͤber- fluͤßig zu erinnern, wie verſchieden der Maßſtab, die Wage und die Glaͤßer ſind, wornach hiebey geurthei- let werden kann. Welches ſind denn die richtigen? Denn mit ſolchen ſollte doch die uͤberlegende Vernunft verſehen ſeyn. Der kuͤhnen Einbildungskraft des Dich- ters, im Pope und im Antipope, mag man es erlauben, nach dem bloßen Gefuͤhl zu urtheilen. Koͤnnen wir den beſtimmten Maßſtab zu menſchlichen Vollkommenheiten nicht R r 5
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und Entwickelung des Menſchen.
gelegt iſt, das Herz mit Empfindungen zu erfuͤllen.
Wer kann, nach Popes ſtarker Erinnerung, die Sce-
nen der Menſchheit durchwandern und bey dieſer er-
ſtaunlichen Mannichfaltigkeit der Geſtalten und Formen,
in welchen die menſchliche Natur in den wirklichen Men-
ſchen geleitet, gelocket, getrieben oder gezwungen iſt,
den Blick ſo feſthalten, daß die Ueberlegung nicht durch
die allenthalben her ſich aufdringenden Empfindungen ir-
re werde? Wenn man in dieſer großen Sphaͤre auf-
ſuchen will, was hoch und niedrig, gerade und ſchief,
Schein und Wahrheit, hochachtungswuͤrdig und ver-
aͤchtlich, des Wuͤnſchens und Verwuͤnſchens werth iſt,
und Menſchen mit Menſchen in dieſer Hinſicht vergleicht:
ſo wird man ihre Unterſchiede groß oder klein, wichtig
oder unwichtig finden, je nachdem der Standort niedri-
ger oder hoͤher iſt, aus dem man ſie uͤberſiehet. An-
fangs ſcheinet der Vorzug des Menſchen vor dem Men-
ſchen unuͤberſehlich, ſo lange die Ausſicht noch ſehr ein-
geſchraͤnkt iſt. Nehmen wir die Stellung hoͤher, ſo wird
er geringer; und noch weiter hinauf, ſo iſt das ganze
Geſchlecht ein Jnſektenhaufe, den man in der Ferne
ſieht, wo die Vorzuͤge und Unterſchiede der Jndividuen
verſchwinden. Es giebt endlich eine mittlere Stelle,
wo dieſe Verhaͤltniſſe uns ſo vorkommen, wie ſie
muͤſſen, wenn unſere Wuͤnſche und Beſtrebungen in
dem Grade der Staͤrke und Thaͤtigkeit erhalten werden
ſollen, die unſere Beſtimmung erfodert. Es iſt uͤber-
fluͤßig zu erinnern, wie verſchieden der Maßſtab, die
Wage und die Glaͤßer ſind, wornach hiebey geurthei-
let werden kann. Welches ſind denn die richtigen?
Denn mit ſolchen ſollte doch die uͤberlegende Vernunft
verſehen ſeyn. Der kuͤhnen Einbildungskraft des Dich-
ters, im Pope und im Antipope, mag man es erlauben,
nach dem bloßen Gefuͤhl zu urtheilen. Koͤnnen wir den
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