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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibiliät
der Moral wohl unrichtig seyn? Und wenn es es nicht
ist, worauf beruhet es?

"Die größere Modifikabilität und größere Selbst-
"thätigkeit der Seele ist das Unterscheidungsmerkmal
"der Menschheit." Jene bestehet in dem Vermögen
Veränderungen anzunehmen. Je leichter, je mehrere,
je mannichfaltigere, je fester die Seele solche in sich auf-
nehmen kann, desto größer ist extensive und intensive
ihre Receptivität, die hier Empfindsamkeit heißen
mag. Setzen wir diese, als ein Vermögen zu beiden,
der Selbstthätigkeit, als einem Vermögen zu wirken,
entgegen: so sind sie so heterogener Natur, daß keine Ver-
gleichung zwischen ihnen stattfindet. Allein in| diefer
Abstraktion kann auch jene nicht einmal für etwas Posi-
tives oder für eine Realität gehalten werden, woferne
nicht darauf gesehen wird, daß sie eine Folge von posi-
tiven und reellen Beschaffenheiten ist. Die Vermögen
sich modisiciren zu lassen sind so, wie sie bey der Seele
sind, mitwirkende Vermögen und gründen sich in den
thätigen. Sie gehören also zu der Selbstthätigkeit
der Seele. Wenn man sie also nur nicht bloß in ihrer
formellen Abstraktion nimmt, sondern beide so nimmt,
wie sie in concreto in der Seele sind, so lassen sie sich
unter einen gemeinschaftlichen Begriff von Graden und
Stufen in dem reellen selbstthätigen Princip brin-
gen. Und alsdenn kommt man zu einem allgemeinen
fruchtbaren Grundsatz, der aus der Natur des Men-
schen fließet: "Je größer die Selbstthätigkeit der Seele
"ist, in desto größerm Maße ist das Eigene der Mensch-
"heit vorhanden." Von allen Vorschriften der Mo-
ral, die sich auf die Tugend beziehen, ist dieß am Ende
der Geist und die Hauptsumme: Mensch erhöhe
deine innere Selbstthätigkeit.

Jn dem heftigsten Affekt ist ohne Zweifel, sowohl
in den Bewegungen der Seele als in den Bewegun-

gen

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibiliaͤt
der Moral wohl unrichtig ſeyn? Und wenn es es nicht
iſt, worauf beruhet es?

„Die groͤßere Modifikabilitaͤt und groͤßere Selbſt-
„thaͤtigkeit der Seele iſt das Unterſcheidungsmerkmal
„der Menſchheit.‟ Jene beſtehet in dem Vermoͤgen
Veraͤnderungen anzunehmen. Je leichter, je mehrere,
je mannichfaltigere, je feſter die Seele ſolche in ſich auf-
nehmen kann, deſto groͤßer iſt extenſive und intenſive
ihre Receptivitaͤt, die hier Empfindſamkeit heißen
mag. Setzen wir dieſe, als ein Vermoͤgen zu beiden,
der Selbſtthaͤtigkeit, als einem Vermoͤgen zu wirken,
entgegen: ſo ſind ſie ſo heterogener Natur, daß keine Ver-
gleichung zwiſchen ihnen ſtattfindet. Allein in| diefer
Abſtraktion kann auch jene nicht einmal fuͤr etwas Poſi-
tives oder fuͤr eine Realitaͤt gehalten werden, woferne
nicht darauf geſehen wird, daß ſie eine Folge von poſi-
tiven und reellen Beſchaffenheiten iſt. Die Vermoͤgen
ſich modiſiciren zu laſſen ſind ſo, wie ſie bey der Seele
ſind, mitwirkende Vermoͤgen und gruͤnden ſich in den
thaͤtigen. Sie gehoͤren alſo zu der Selbſtthaͤtigkeit
der Seele. Wenn man ſie alſo nur nicht bloß in ihrer
formellen Abſtraktion nimmt, ſondern beide ſo nimmt,
wie ſie in concreto in der Seele ſind, ſo laſſen ſie ſich
unter einen gemeinſchaftlichen Begriff von Graden und
Stufen in dem reellen ſelbſtthaͤtigen Princip brin-
gen. Und alsdenn kommt man zu einem allgemeinen
fruchtbaren Grundſatz, der aus der Natur des Men-
ſchen fließet: „Je groͤßer die Selbſtthaͤtigkeit der Seele
„iſt, in deſto groͤßerm Maße iſt das Eigene der Menſch-
„heit vorhanden.‟ Von allen Vorſchriften der Mo-
ral, die ſich auf die Tugend beziehen, iſt dieß am Ende
der Geiſt und die Hauptſumme: Menſch erhoͤhe
deine innere Selbſtthaͤtigkeit.

Jn dem heftigſten Affekt iſt ohne Zweifel, ſowohl
in den Bewegungen der Seele als in den Bewegun-

gen
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[650/0680] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibiliaͤt der Moral wohl unrichtig ſeyn? Und wenn es es nicht iſt, worauf beruhet es? „Die groͤßere Modifikabilitaͤt und groͤßere Selbſt- „thaͤtigkeit der Seele iſt das Unterſcheidungsmerkmal „der Menſchheit.‟ Jene beſtehet in dem Vermoͤgen Veraͤnderungen anzunehmen. Je leichter, je mehrere, je mannichfaltigere, je feſter die Seele ſolche in ſich auf- nehmen kann, deſto groͤßer iſt extenſive und intenſive ihre Receptivitaͤt, die hier Empfindſamkeit heißen mag. Setzen wir dieſe, als ein Vermoͤgen zu beiden, der Selbſtthaͤtigkeit, als einem Vermoͤgen zu wirken, entgegen: ſo ſind ſie ſo heterogener Natur, daß keine Ver- gleichung zwiſchen ihnen ſtattfindet. Allein in| diefer Abſtraktion kann auch jene nicht einmal fuͤr etwas Poſi- tives oder fuͤr eine Realitaͤt gehalten werden, woferne nicht darauf geſehen wird, daß ſie eine Folge von poſi- tiven und reellen Beſchaffenheiten iſt. Die Vermoͤgen ſich modiſiciren zu laſſen ſind ſo, wie ſie bey der Seele ſind, mitwirkende Vermoͤgen und gruͤnden ſich in den thaͤtigen. Sie gehoͤren alſo zu der Selbſtthaͤtigkeit der Seele. Wenn man ſie alſo nur nicht bloß in ihrer formellen Abſtraktion nimmt, ſondern beide ſo nimmt, wie ſie in concreto in der Seele ſind, ſo laſſen ſie ſich unter einen gemeinſchaftlichen Begriff von Graden und Stufen in dem reellen ſelbſtthaͤtigen Princip brin- gen. Und alsdenn kommt man zu einem allgemeinen fruchtbaren Grundſatz, der aus der Natur des Men- ſchen fließet: „Je groͤßer die Selbſtthaͤtigkeit der Seele „iſt, in deſto groͤßerm Maße iſt das Eigene der Menſch- „heit vorhanden.‟ Von allen Vorſchriften der Mo- ral, die ſich auf die Tugend beziehen, iſt dieß am Ende der Geiſt und die Hauptſumme: Menſch erhoͤhe deine innere Selbſtthaͤtigkeit. Jn dem heftigſten Affekt iſt ohne Zweifel, ſowohl in den Bewegungen der Seele als in den Bewegun- gen

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 650. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/680>, abgerufen am 26.11.2024.