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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
aufgelöst und dann unter einander in ein Chaos ge-
mischt, oder nur hie und da in der Ordnung der Em-
pfindung, in der sie ehedem theilweise in die Phantasie
hineingebracht worden sind, in kleinere Haufen ver-
sammlet: was würde dieß für ein Ganzes seyn, und
welch eine Vollkommenheit solchen Unsinn zu träumen?
Ein großer Verstand ist ein wesentlicher Bestandtheil
eines großen Genies. Dieß ist mit andern Worten so
viel, als: die thätige Vorstellungskraft muß aus Ei-
genmacht der Seele seyn. Nur dadurch, daß sie viele,
mannichfaltige, lebhafte und starke Vorstellungen selbst-
thätig erwecken, auflösen, vermischen, nach Absicht
und Plan solche stellen und verbinden und ordnen kann,
zeiget sie sich als die Schöpferkraft, die wahre Seelen-
größe ist. Je mehr diese Selbstthätigkeit in ihrer Wir-
kung sich offenbaret, desto lebendiger ist das Gefühl ih-
rer Größe, das uns die Bewunderung und Verehrung
für das Genie abzwinget.

Eben so ist es Selbstthätigkeit der Seele und eine
ausnehmende Größe derselben, welche das Wesen der
Tugend
ausmacht. Haben die Moralisten Recht,
wenn sie die Würde der Tugend, die Rechtschaffenheit
des Charakters, als die höchste menschliche Vollkom-
menheit ausgeben, und sie über die Stärke des Ver-
standes und über die Lebhaftigkeit der Dichtkraft erhe-
ben: "so muß sie als eine physische Realität des Men-
"schen betrachtet, so groß seyn und größer, als die übri-
"gen." So ist es. Eine genauere Entwickelung ih-
rer Natur lehret, daß sie in Vergleichung mit andern
den höchsten Grad der innern Selbstthätigkeit
erfodere.
Sie enthält, man mag die Erklärung der
Tugend einrichten wie man will, zweyerley. Gutar-
tigkeit und Rechtschaffenheit in den Gesinnungen, unt
Herrschaft der Seele über sich selbst. Jenes ist die
Richtung auf das Gute und Beste der Menschheit, das

ist,

und Entwickelung des Menſchen.
aufgeloͤſt und dann unter einander in ein Chaos ge-
miſcht, oder nur hie und da in der Ordnung der Em-
pfindung, in der ſie ehedem theilweiſe in die Phantaſie
hineingebracht worden ſind, in kleinere Haufen ver-
ſammlet: was wuͤrde dieß fuͤr ein Ganzes ſeyn, und
welch eine Vollkommenheit ſolchen Unſinn zu traͤumen?
Ein großer Verſtand iſt ein weſentlicher Beſtandtheil
eines großen Genies. Dieß iſt mit andern Worten ſo
viel, als: die thaͤtige Vorſtellungskraft muß aus Ei-
genmacht der Seele ſeyn. Nur dadurch, daß ſie viele,
mannichfaltige, lebhafte und ſtarke Vorſtellungen ſelbſt-
thaͤtig erwecken, aufloͤſen, vermiſchen, nach Abſicht
und Plan ſolche ſtellen und verbinden und ordnen kann,
zeiget ſie ſich als die Schoͤpferkraft, die wahre Seelen-
groͤße iſt. Je mehr dieſe Selbſtthaͤtigkeit in ihrer Wir-
kung ſich offenbaret, deſto lebendiger iſt das Gefuͤhl ih-
rer Groͤße, das uns die Bewunderung und Verehrung
fuͤr das Genie abzwinget.

Eben ſo iſt es Selbſtthaͤtigkeit der Seele und eine
ausnehmende Groͤße derſelben, welche das Weſen der
Tugend
ausmacht. Haben die Moraliſten Recht,
wenn ſie die Wuͤrde der Tugend, die Rechtſchaffenheit
des Charakters, als die hoͤchſte menſchliche Vollkom-
menheit ausgeben, und ſie uͤber die Staͤrke des Ver-
ſtandes und uͤber die Lebhaftigkeit der Dichtkraft erhe-
ben: „ſo muß ſie als eine phyſiſche Realitaͤt des Men-
„ſchen betrachtet, ſo groß ſeyn und groͤßer, als die uͤbri-
„gen.‟ So iſt es. Eine genauere Entwickelung ih-
rer Natur lehret, daß ſie in Vergleichung mit andern
den hoͤchſten Grad der innern Selbſtthaͤtigkeit
erfodere.
Sie enthaͤlt, man mag die Erklaͤrung der
Tugend einrichten wie man will, zweyerley. Gutar-
tigkeit und Rechtſchaffenheit in den Geſinnungen, unt
Herrſchaft der Seele uͤber ſich ſelbſt. Jenes iſt die
Richtung auf das Gute und Beſte der Menſchheit, das

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[653/0683] und Entwickelung des Menſchen. aufgeloͤſt und dann unter einander in ein Chaos ge- miſcht, oder nur hie und da in der Ordnung der Em- pfindung, in der ſie ehedem theilweiſe in die Phantaſie hineingebracht worden ſind, in kleinere Haufen ver- ſammlet: was wuͤrde dieß fuͤr ein Ganzes ſeyn, und welch eine Vollkommenheit ſolchen Unſinn zu traͤumen? Ein großer Verſtand iſt ein weſentlicher Beſtandtheil eines großen Genies. Dieß iſt mit andern Worten ſo viel, als: die thaͤtige Vorſtellungskraft muß aus Ei- genmacht der Seele ſeyn. Nur dadurch, daß ſie viele, mannichfaltige, lebhafte und ſtarke Vorſtellungen ſelbſt- thaͤtig erwecken, aufloͤſen, vermiſchen, nach Abſicht und Plan ſolche ſtellen und verbinden und ordnen kann, zeiget ſie ſich als die Schoͤpferkraft, die wahre Seelen- groͤße iſt. Je mehr dieſe Selbſtthaͤtigkeit in ihrer Wir- kung ſich offenbaret, deſto lebendiger iſt das Gefuͤhl ih- rer Groͤße, das uns die Bewunderung und Verehrung fuͤr das Genie abzwinget. Eben ſo iſt es Selbſtthaͤtigkeit der Seele und eine ausnehmende Groͤße derſelben, welche das Weſen der Tugend ausmacht. Haben die Moraliſten Recht, wenn ſie die Wuͤrde der Tugend, die Rechtſchaffenheit des Charakters, als die hoͤchſte menſchliche Vollkom- menheit ausgeben, und ſie uͤber die Staͤrke des Ver- ſtandes und uͤber die Lebhaftigkeit der Dichtkraft erhe- ben: „ſo muß ſie als eine phyſiſche Realitaͤt des Men- „ſchen betrachtet, ſo groß ſeyn und groͤßer, als die uͤbri- „gen.‟ So iſt es. Eine genauere Entwickelung ih- rer Natur lehret, daß ſie in Vergleichung mit andern den hoͤchſten Grad der innern Selbſtthaͤtigkeit erfodere. Sie enthaͤlt, man mag die Erklaͤrung der Tugend einrichten wie man will, zweyerley. Gutar- tigkeit und Rechtſchaffenheit in den Geſinnungen, unt Herrſchaft der Seele uͤber ſich ſelbſt. Jenes iſt die Richtung auf das Gute und Beſte der Menſchheit, das iſt,

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 653. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/683>, abgerufen am 26.11.2024.