Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.und Entwickelung des Menschen. Jndessen kann auch auf der andern Seite die falscheVorstellung, eben weil sie falsch ist und sich mit an- dern Kenntnissen, die nach und nach hinzukommen, nicht verträgt, ein desto größerer Reiz für die Reflexion seyn sich stärker anzustrengen, um aus ihrer Verlegen- heit herauszukommen. Aber dieß ist doch nur ein zu- fälliger Vortheil, den die Wahrheit in größerer Maße auch leisten kann. Es bleibet doch immer die wahre Vorstellung ein fruchtbarer Saamen, der nützliche Früchte trägt, die man suchet; dagegen die falsche, wenn sie fruchtbar ist, Unkraut im Verstande hervor- bringet. Allein, so wie man nicht sagen kann, daß das Unkraut an sich ein unvollkommneres Gewächse ist, als das Kraut, wenn man nicht auf den Nutzen für Men- schen siehet, so kann man auch nichts mehr über den Vorzug der Wahrheit vor dem Jrrthum sagen, von der Seite betrachtet, wie beide auf den Verstand wirken, als daß jene künftig ein Vergnügen mehr gewähren wer- de als dieser, oder doch uns einen Verdruß ersparen, den wir bey dem Jrrthume über kurz oder lang empfin- den müssen; vorausgesetzt, daß der Jrrende bey sei- nem Jrrthume sich der Sache eben so gewiß hält, als der die wahre Kenntniß hat. Wahrheit oder Einbil- dung, Glaube oder Aberglaube, richtige oder falsche Vorurtheile, wenn man nicht auf die Folgen sieht, die sie auf das Gemüth und aufs Herz haben, so ist dasje- nige, wovon ihr absoluter Werth bestimmt werden kann, mehr ihre innere Form, die sie als Kenntniß haben, als das Unterscheidende, was sie als Wahrheit haben. Wie viel mehr oder weniger sind sie Modifikationen der Er- kenntnißkräfte? Wie reichhaltiger, voller, stärker sind sies, und wie viel mehr oder weniger beschäfftigen, üben und erhöhen sie die physischen Kräfte des Verstan- des, die unmittelbar bey ihrer Bearbeitung wirken? So weit entwickeln und erhöhen sie den Menschen von dieser T t 5
und Entwickelung des Menſchen. Jndeſſen kann auch auf der andern Seite die falſcheVorſtellung, eben weil ſie falſch iſt und ſich mit an- dern Kenntniſſen, die nach und nach hinzukommen, nicht vertraͤgt, ein deſto groͤßerer Reiz fuͤr die Reflexion ſeyn ſich ſtaͤrker anzuſtrengen, um aus ihrer Verlegen- heit herauszukommen. Aber dieß iſt doch nur ein zu- faͤlliger Vortheil, den die Wahrheit in groͤßerer Maße auch leiſten kann. Es bleibet doch immer die wahre Vorſtellung ein fruchtbarer Saamen, der nuͤtzliche Fruͤchte traͤgt, die man ſuchet; dagegen die falſche, wenn ſie fruchtbar iſt, Unkraut im Verſtande hervor- bringet. Allein, ſo wie man nicht ſagen kann, daß das Unkraut an ſich ein unvollkommneres Gewaͤchſe iſt, als das Kraut, wenn man nicht auf den Nutzen fuͤr Men- ſchen ſiehet, ſo kann man auch nichts mehr uͤber den Vorzug der Wahrheit vor dem Jrrthum ſagen, von der Seite betrachtet, wie beide auf den Verſtand wirken, als daß jene kuͤnftig ein Vergnuͤgen mehr gewaͤhren wer- de als dieſer, oder doch uns einen Verdruß erſparen, den wir bey dem Jrrthume uͤber kurz oder lang empfin- den muͤſſen; vorausgeſetzt, daß der Jrrende bey ſei- nem Jrrthume ſich der Sache eben ſo gewiß haͤlt, als der die wahre Kenntniß hat. Wahrheit oder Einbil- dung, Glaube oder Aberglaube, richtige oder falſche Vorurtheile, wenn man nicht auf die Folgen ſieht, die ſie auf das Gemuͤth und aufs Herz haben, ſo iſt dasje- nige, wovon ihr abſoluter Werth beſtimmt werden kann, mehr ihre innere Form, die ſie als Kenntniß haben, als das Unterſcheidende, was ſie als Wahrheit haben. Wie viel mehr oder weniger ſind ſie Modifikationen der Er- kenntnißkraͤfte? Wie reichhaltiger, voller, ſtaͤrker ſind ſies, und wie viel mehr oder weniger beſchaͤfftigen, uͤben und erhoͤhen ſie die phyſiſchen Kraͤfte des Verſtan- des, die unmittelbar bey ihrer Bearbeitung wirken? So weit entwickeln und erhoͤhen ſie den Menſchen von dieſer T t 5
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0695" n="665"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">und Entwickelung des Menſchen.</hi></fw><lb/> Jndeſſen kann auch auf der andern Seite die falſche<lb/> Vorſtellung, eben weil ſie falſch iſt und ſich mit an-<lb/> dern Kenntniſſen, die nach und nach hinzukommen,<lb/> nicht vertraͤgt, ein deſto groͤßerer Reiz fuͤr die Reflexion<lb/> ſeyn ſich ſtaͤrker anzuſtrengen, um aus ihrer Verlegen-<lb/> heit herauszukommen. Aber dieß iſt doch nur ein zu-<lb/> faͤlliger Vortheil, den die Wahrheit in groͤßerer Maße<lb/> auch leiſten kann. Es bleibet doch immer die wahre<lb/> Vorſtellung ein fruchtbarer Saamen, der nuͤtzliche<lb/> Fruͤchte traͤgt, die man ſuchet; dagegen die falſche,<lb/> wenn ſie fruchtbar iſt, Unkraut im Verſtande hervor-<lb/> bringet. Allein, ſo wie man nicht ſagen kann, daß das<lb/> Unkraut an ſich ein unvollkommneres Gewaͤchſe iſt, als<lb/> das Kraut, wenn man nicht auf den Nutzen fuͤr Men-<lb/> ſchen ſiehet, ſo kann man auch nichts mehr uͤber den<lb/> Vorzug der Wahrheit vor dem Jrrthum ſagen, von der<lb/> Seite betrachtet, wie beide auf den Verſtand wirken,<lb/> als daß jene kuͤnftig ein Vergnuͤgen mehr gewaͤhren wer-<lb/> de als dieſer, oder doch uns einen Verdruß erſparen,<lb/> den wir bey dem Jrrthume uͤber kurz oder lang empfin-<lb/> den muͤſſen; vorausgeſetzt, daß der Jrrende bey ſei-<lb/> nem Jrrthume ſich der Sache eben ſo gewiß haͤlt, als<lb/> der die wahre Kenntniß hat. Wahrheit oder Einbil-<lb/> dung, Glaube oder Aberglaube, richtige oder falſche<lb/> Vorurtheile, wenn man nicht auf die Folgen ſieht, die<lb/> ſie auf das Gemuͤth und aufs Herz haben, ſo iſt dasje-<lb/> nige, wovon ihr abſoluter Werth beſtimmt werden kann,<lb/> mehr ihre innere Form, die ſie als Kenntniß haben, als<lb/> das Unterſcheidende, was ſie als Wahrheit haben. Wie<lb/> viel mehr oder weniger ſind ſie Modifikationen der Er-<lb/> kenntnißkraͤfte? Wie reichhaltiger, voller, ſtaͤrker ſind<lb/> ſies, und wie viel mehr oder weniger beſchaͤfftigen,<lb/> uͤben und erhoͤhen ſie die phyſiſchen Kraͤfte des Verſtan-<lb/> des, die unmittelbar bey ihrer Bearbeitung wirken?<lb/> So weit entwickeln und erhoͤhen ſie den Menſchen von<lb/> <fw place="bottom" type="sig">T t 5</fw><fw place="bottom" type="catch">dieſer</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [665/0695]
und Entwickelung des Menſchen.
Jndeſſen kann auch auf der andern Seite die falſche
Vorſtellung, eben weil ſie falſch iſt und ſich mit an-
dern Kenntniſſen, die nach und nach hinzukommen,
nicht vertraͤgt, ein deſto groͤßerer Reiz fuͤr die Reflexion
ſeyn ſich ſtaͤrker anzuſtrengen, um aus ihrer Verlegen-
heit herauszukommen. Aber dieß iſt doch nur ein zu-
faͤlliger Vortheil, den die Wahrheit in groͤßerer Maße
auch leiſten kann. Es bleibet doch immer die wahre
Vorſtellung ein fruchtbarer Saamen, der nuͤtzliche
Fruͤchte traͤgt, die man ſuchet; dagegen die falſche,
wenn ſie fruchtbar iſt, Unkraut im Verſtande hervor-
bringet. Allein, ſo wie man nicht ſagen kann, daß das
Unkraut an ſich ein unvollkommneres Gewaͤchſe iſt, als
das Kraut, wenn man nicht auf den Nutzen fuͤr Men-
ſchen ſiehet, ſo kann man auch nichts mehr uͤber den
Vorzug der Wahrheit vor dem Jrrthum ſagen, von der
Seite betrachtet, wie beide auf den Verſtand wirken,
als daß jene kuͤnftig ein Vergnuͤgen mehr gewaͤhren wer-
de als dieſer, oder doch uns einen Verdruß erſparen,
den wir bey dem Jrrthume uͤber kurz oder lang empfin-
den muͤſſen; vorausgeſetzt, daß der Jrrende bey ſei-
nem Jrrthume ſich der Sache eben ſo gewiß haͤlt, als
der die wahre Kenntniß hat. Wahrheit oder Einbil-
dung, Glaube oder Aberglaube, richtige oder falſche
Vorurtheile, wenn man nicht auf die Folgen ſieht, die
ſie auf das Gemuͤth und aufs Herz haben, ſo iſt dasje-
nige, wovon ihr abſoluter Werth beſtimmt werden kann,
mehr ihre innere Form, die ſie als Kenntniß haben, als
das Unterſcheidende, was ſie als Wahrheit haben. Wie
viel mehr oder weniger ſind ſie Modifikationen der Er-
kenntnißkraͤfte? Wie reichhaltiger, voller, ſtaͤrker ſind
ſies, und wie viel mehr oder weniger beſchaͤfftigen,
uͤben und erhoͤhen ſie die phyſiſchen Kraͤfte des Verſtan-
des, die unmittelbar bey ihrer Bearbeitung wirken?
So weit entwickeln und erhoͤhen ſie den Menſchen von
dieſer
T t 5
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |