soferne sie wahr ist, neugieriger und nachforschender, oder zufriedener, ruhiger, muthvoller, weiser, klüger, gerechter, mäßiger, gefälliger, freundschaftlicher? Es ist der unauslöschliche Vorzug der Wahrheit, daß sie zu diesen glücklichen Wirkungen die Ursache enthalte; aber so sie genommen, wie sie in den meisten Menschen ist, hat sie diese Folgen nicht so, daß der Jrrthum sie auch nicht haben könnte.
Worinnen bestehet nun, wo es so ist, ihre Vorzüg- lichkeit vor dem Jrrthum, als in den Folgen, die sie an sich haben kann, künftig haben wird, aber gegen- wärtig doch nicht hat, und darinn, daß, wenn einmal eine völlige Berichtigung des Verstandes bewirkt wer- den soll, die wahre Einsicht ungeändert bleibet, die fal- sche aber weggeschafft werden muß. Sonsten hängt alles davon ab, wie weit beide Erkenntnisse vielbefassende Modifikationen der Seele sind, oder sich auf größere oder schwächere Kräfte beziehen.
Wenn hier nur der Vorzug zu betrachten ist, der dem Menschen aus dem Besitz der Wahrheit erwächset, so ist zwar davon die Rede nicht, ob sie nicht auch zu- weilen unter zufälligen Umständen weniger nützlich wer- den könne, als der Jrrthum, und sogar schädlicher; allein dennoch muß diese Betrachtung nicht ganz über- gangen werden, wenn man sich genugsam gegen die einsei- tigen Urtheile derer verwahren will, die den Jrrthum im Verstande für eine weit größere Unvollkommenheit halten, als die Schwäche der Kräfte, und als, bis wohin einige wirklich gegangen sind, die Verstimmung des Herzens und der Begierden. Die Geschichte leh- ret es, daß die fruchtbarsten Wahrheiten durch beyge- mischte Jrrthümer und durch äußere Umstände, die die Seele bestimmen, ersticken, verderben und schädlich werden, und so oft bey ganzen Völkern es geworden sind. Hingegen haben Jrrthümer, Vorurtheile und
Aber-
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſoferne ſie wahr iſt, neugieriger und nachforſchender, oder zufriedener, ruhiger, muthvoller, weiſer, kluͤger, gerechter, maͤßiger, gefaͤlliger, freundſchaftlicher? Es iſt der unausloͤſchliche Vorzug der Wahrheit, daß ſie zu dieſen gluͤcklichen Wirkungen die Urſache enthalte; aber ſo ſie genommen, wie ſie in den meiſten Menſchen iſt, hat ſie dieſe Folgen nicht ſo, daß der Jrrthum ſie auch nicht haben koͤnnte.
Worinnen beſtehet nun, wo es ſo iſt, ihre Vorzuͤg- lichkeit vor dem Jrrthum, als in den Folgen, die ſie an ſich haben kann, kuͤnftig haben wird, aber gegen- waͤrtig doch nicht hat, und darinn, daß, wenn einmal eine voͤllige Berichtigung des Verſtandes bewirkt wer- den ſoll, die wahre Einſicht ungeaͤndert bleibet, die fal- ſche aber weggeſchafft werden muß. Sonſten haͤngt alles davon ab, wie weit beide Erkenntniſſe vielbefaſſende Modifikationen der Seele ſind, oder ſich auf groͤßere oder ſchwaͤchere Kraͤfte beziehen.
Wenn hier nur der Vorzug zu betrachten iſt, der dem Menſchen aus dem Beſitz der Wahrheit erwaͤchſet, ſo iſt zwar davon die Rede nicht, ob ſie nicht auch zu- weilen unter zufaͤlligen Umſtaͤnden weniger nuͤtzlich wer- den koͤnne, als der Jrrthum, und ſogar ſchaͤdlicher; allein dennoch muß dieſe Betrachtung nicht ganz uͤber- gangen werden, wenn man ſich genugſam gegen die einſei- tigen Urtheile derer verwahren will, die den Jrrthum im Verſtande fuͤr eine weit groͤßere Unvollkommenheit halten, als die Schwaͤche der Kraͤfte, und als, bis wohin einige wirklich gegangen ſind, die Verſtimmung des Herzens und der Begierden. Die Geſchichte leh- ret es, daß die fruchtbarſten Wahrheiten durch beyge- miſchte Jrrthuͤmer und durch aͤußere Umſtaͤnde, die die Seele beſtimmen, erſticken, verderben und ſchaͤdlich werden, und ſo oft bey ganzen Voͤlkern es geworden ſind. Hingegen haben Jrrthuͤmer, Vorurtheile und
Aber-
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XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſoferne ſie wahr iſt, neugieriger und nachforſchender,
oder zufriedener, ruhiger, muthvoller, weiſer, kluͤger,
gerechter, maͤßiger, gefaͤlliger, freundſchaftlicher? Es
iſt der unausloͤſchliche Vorzug der Wahrheit, daß ſie
zu dieſen gluͤcklichen Wirkungen die Urſache enthalte;
aber ſo ſie genommen, wie ſie in den meiſten Menſchen
iſt, hat ſie dieſe Folgen nicht ſo, daß der Jrrthum ſie
auch nicht haben koͤnnte.
Worinnen beſtehet nun, wo es ſo iſt, ihre Vorzuͤg-
lichkeit vor dem Jrrthum, als in den Folgen, die ſie
an ſich haben kann, kuͤnftig haben wird, aber gegen-
waͤrtig doch nicht hat, und darinn, daß, wenn einmal
eine voͤllige Berichtigung des Verſtandes bewirkt wer-
den ſoll, die wahre Einſicht ungeaͤndert bleibet, die fal-
ſche aber weggeſchafft werden muß. Sonſten haͤngt alles
davon ab, wie weit beide Erkenntniſſe vielbefaſſende
Modifikationen der Seele ſind, oder ſich auf groͤßere
oder ſchwaͤchere Kraͤfte beziehen.
Wenn hier nur der Vorzug zu betrachten iſt, der
dem Menſchen aus dem Beſitz der Wahrheit erwaͤchſet,
ſo iſt zwar davon die Rede nicht, ob ſie nicht auch zu-
weilen unter zufaͤlligen Umſtaͤnden weniger nuͤtzlich wer-
den koͤnne, als der Jrrthum, und ſogar ſchaͤdlicher;
allein dennoch muß dieſe Betrachtung nicht ganz uͤber-
gangen werden, wenn man ſich genugſam gegen die einſei-
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im Verſtande fuͤr eine weit groͤßere Unvollkommenheit
halten, als die Schwaͤche der Kraͤfte, und als, bis
wohin einige wirklich gegangen ſind, die Verſtimmung
des Herzens und der Begierden. Die Geſchichte leh-
ret es, daß die fruchtbarſten Wahrheiten durch beyge-
miſchte Jrrthuͤmer und durch aͤußere Umſtaͤnde, die die
Seele beſtimmen, erſticken, verderben und ſchaͤdlich
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 668. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/698>, abgerufen am 27.11.2024.
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