Auch drittens folget aus der vorherbestimmten Gleich- heit so viel, daß man nicht glauben kann, es sey irgend ein Mensch blos als Mittel zu der Glückseligkeit eines andern, als zu einem Zwecke, in die Welt gesetzt. Je- des Jndividuum ist selbst für sich Zweck und Absicht, und berechtiget sein eigenes Wohl als einen Theil des Ganzen anzusehen, und das Wohl eines andern eben so, ohne daß jenes diesem untergeordnet sey. Kein Mensch ist so ganz um des andern willen vorhanden, so wenig als er blos um eines andern willen entwickelt wird.
Auch die rechtliche Gleichheit zwischen entwickelten Menschen ist eine Folge der physischen Gleichheit. Jeder erwachsene völlig organisirte Mensch besitzt nicht nur innere Selbstthätigkeit und Unabhän- gigkeit, sondern auch eine äußere in seinen Handlun- gen. Diese ist sein Eigenthum, und kann ohne Ge- waltthätigkeit, weder ihm gänzlich entzogen, noch weiter eingeschränkt werden, als die Natur und die Absicht der gesellschaftlichen Verbindung oder das allgemeine Be- ste es nothwendig machen. Es war eine ungeheure Verletzung der Menschlichkeit, da die Europäer sich für berechtigt hielten, die wilden und barbarischen Bewoh- ner der entdeckten Länder zu berauben, aus ihrem Be- sitze zu verjagen, zu Sklaven zu machen, zu ihrer Re- ligion zu zwingen und sie ganz zu ihrem Eigennutz zu gebrauchen. So mag der Mensch mit den wilden Och- sen in den Ebenen von Paraguay umgehen. Denn da- zu berechtiget ihn, im Fall er ihre Häute oder ihr Fleisch gebrauchen kann, seine natürliche Beziehung auf die Thiere. Aber gegen Menschen stehet der Mensch in an- dern Verhältnissen. Wenn es Völker gegeben hätte, die wirklich solche Thiere in menschlicher Gestalt gewe- sen, wofür man die Einwohner auf Domingo ausgab, oder wenn es noch solche giebt, die schlechthin nicht an-
ders
IITheil. X x
und Entwickelung des Menſchen.
Auch drittens folget aus der vorherbeſtimmten Gleich- heit ſo viel, daß man nicht glauben kann, es ſey irgend ein Menſch blos als Mittel zu der Gluͤckſeligkeit eines andern, als zu einem Zwecke, in die Welt geſetzt. Je- des Jndividuum iſt ſelbſt fuͤr ſich Zweck und Abſicht, und berechtiget ſein eigenes Wohl als einen Theil des Ganzen anzuſehen, und das Wohl eines andern eben ſo, ohne daß jenes dieſem untergeordnet ſey. Kein Menſch iſt ſo ganz um des andern willen vorhanden, ſo wenig als er blos um eines andern willen entwickelt wird.
Auch die rechtliche Gleichheit zwiſchen entwickelten Menſchen iſt eine Folge der phyſiſchen Gleichheit. Jeder erwachſene voͤllig organiſirte Menſch beſitzt nicht nur innere Selbſtthaͤtigkeit und Unabhaͤn- gigkeit, ſondern auch eine aͤußere in ſeinen Handlun- gen. Dieſe iſt ſein Eigenthum, und kann ohne Ge- waltthaͤtigkeit, weder ihm gaͤnzlich entzogen, noch weiter eingeſchraͤnkt werden, als die Natur und die Abſicht der geſellſchaftlichen Verbindung oder das allgemeine Be- ſte es nothwendig machen. Es war eine ungeheure Verletzung der Menſchlichkeit, da die Europaͤer ſich fuͤr berechtigt hielten, die wilden und barbariſchen Bewoh- ner der entdeckten Laͤnder zu berauben, aus ihrem Be- ſitze zu verjagen, zu Sklaven zu machen, zu ihrer Re- ligion zu zwingen und ſie ganz zu ihrem Eigennutz zu gebrauchen. So mag der Menſch mit den wilden Och- ſen in den Ebenen von Paraguay umgehen. Denn da- zu berechtiget ihn, im Fall er ihre Haͤute oder ihr Fleiſch gebrauchen kann, ſeine natuͤrliche Beziehung auf die Thiere. Aber gegen Menſchen ſtehet der Menſch in an- dern Verhaͤltniſſen. Wenn es Voͤlker gegeben haͤtte, die wirklich ſolche Thiere in menſchlicher Geſtalt gewe- ſen, wofuͤr man die Einwohner auf Domingo ausgab, oder wenn es noch ſolche giebt, die ſchlechthin nicht an-
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und Entwickelung des Menſchen.
Auch drittens folget aus der vorherbeſtimmten Gleich-
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ein Menſch blos als Mittel zu der Gluͤckſeligkeit eines
andern, als zu einem Zwecke, in die Welt geſetzt. Je-
des Jndividuum iſt ſelbſt fuͤr ſich Zweck und Abſicht,
und berechtiget ſein eigenes Wohl als einen Theil des
Ganzen anzuſehen, und das Wohl eines andern eben
ſo, ohne daß jenes dieſem untergeordnet ſey. Kein
Menſch iſt ſo ganz um des andern willen vorhanden, ſo
wenig als er blos um eines andern willen entwickelt
wird.
Auch die rechtliche Gleichheit zwiſchen entwickelten
Menſchen iſt eine Folge der phyſiſchen Gleichheit.
Jeder erwachſene voͤllig organiſirte Menſch beſitzt
nicht nur innere Selbſtthaͤtigkeit und Unabhaͤn-
gigkeit, ſondern auch eine aͤußere in ſeinen Handlun-
gen. Dieſe iſt ſein Eigenthum, und kann ohne Ge-
waltthaͤtigkeit, weder ihm gaͤnzlich entzogen, noch weiter
eingeſchraͤnkt werden, als die Natur und die Abſicht der
geſellſchaftlichen Verbindung oder das allgemeine Be-
ſte es nothwendig machen. Es war eine ungeheure
Verletzung der Menſchlichkeit, da die Europaͤer ſich fuͤr
berechtigt hielten, die wilden und barbariſchen Bewoh-
ner der entdeckten Laͤnder zu berauben, aus ihrem Be-
ſitze zu verjagen, zu Sklaven zu machen, zu ihrer Re-
ligion zu zwingen und ſie ganz zu ihrem Eigennutz zu
gebrauchen. So mag der Menſch mit den wilden Och-
ſen in den Ebenen von Paraguay umgehen. Denn da-
zu berechtiget ihn, im Fall er ihre Haͤute oder ihr Fleiſch
gebrauchen kann, ſeine natuͤrliche Beziehung auf die
Thiere. Aber gegen Menſchen ſtehet der Menſch in an-
dern Verhaͤltniſſen. Wenn es Voͤlker gegeben haͤtte,
die wirklich ſolche Thiere in menſchlicher Geſtalt gewe-
ſen, wofuͤr man die Einwohner auf Domingo ausgab,
oder wenn es noch ſolche giebt, die ſchlechthin nicht an-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 689. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/719>, abgerufen am 25.11.2024.
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