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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
auf das weitere Fortschreiten weniger bedeuten, aber
niemals sind sie ganz gleichgültig. Wenn der Baum
schon im Schuß ist, so kommt er auch in einem Boden
fort, worinn er im Anfange seines Wachsens erstickt
seyn würde. Und dennoch ist ihm niemals die Beschaf-
fenheit des Bodens gleichgültig. Jn einigen Fällen ist
dieser Einfluß des Aeußern auf das Jnnere auffallend.

Es ist gewiß, daß die Seele zurückbleibet, wo das
thierische Leben allzu mühselig ist. Wenn der Mensch
alles Bestreben anwenden muß um sich Nahrung zu
verschaffen, wie sollte er Zeit haben die höhere Denk-
kraft zu üben? Jn der elenden Verfassung der Be-
wohner des Feuerlandes sind zwar Bedürfnisse genug,
die zur Thätigkeit treiben, aber sie sind zu dringend und
zu hinreißend, als daß auch die schwächern sollten bemerkt
werden. Der Jäger, der Fischer, der alle Tage darauf
sinnen muß, um nicht zu verhungern, kann auf die an-
genehmen Eindrücke nicht achten, die aus den schönen,
weiten, abwechselnden und erhabenen Aussichten der
Natur entstehen, noch sich an dem Gesang der Vögel
ergötzen. Die feinere Empfindsamkeit wird also weni-
ger entwickelt. Daher auch die Vorstellungskraft nicht,
und noch weniger die Denkkraft. Die Erfahrung be-
stätigt dieses. Jagende und fischende Völker, die sich
nur kümmerlich ernähren, bleiben ungemein an innerer
Selbstthätigkeit der Seele, an Empfindsamkeit und an
Vernunft zurück. Nur die Körperkräfte werden geübt
und entwickelt. Als Shelkirk auf Juan Fernandez
Ziegen greifen mußte, um zu essen, erwarb er sich die
Geschicklichkeit, wie eine Ziege zu springen und auf
Felsen zu klettern; aber er verlor dagegen den größten
Theil seiner Sprache und der Vernunft.

Dagegen würde der gänzliche Mangel an körperli-
chen Bedürfnissen, oder ein Ueberfluß an Sachen, wo-
mit man ihnen abhilft, noch ehe man sie fühlet, viel-

leicht

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
auf das weitere Fortſchreiten weniger bedeuten, aber
niemals ſind ſie ganz gleichguͤltig. Wenn der Baum
ſchon im Schuß iſt, ſo kommt er auch in einem Boden
fort, worinn er im Anfange ſeines Wachſens erſtickt
ſeyn wuͤrde. Und dennoch iſt ihm niemals die Beſchaf-
fenheit des Bodens gleichguͤltig. Jn einigen Faͤllen iſt
dieſer Einfluß des Aeußern auf das Jnnere auffallend.

Es iſt gewiß, daß die Seele zuruͤckbleibet, wo das
thieriſche Leben allzu muͤhſelig iſt. Wenn der Menſch
alles Beſtreben anwenden muß um ſich Nahrung zu
verſchaffen, wie ſollte er Zeit haben die hoͤhere Denk-
kraft zu uͤben? Jn der elenden Verfaſſung der Be-
wohner des Feuerlandes ſind zwar Beduͤrfniſſe genug,
die zur Thaͤtigkeit treiben, aber ſie ſind zu dringend und
zu hinreißend, als daß auch die ſchwaͤchern ſollten bemerkt
werden. Der Jaͤger, der Fiſcher, der alle Tage darauf
ſinnen muß, um nicht zu verhungern, kann auf die an-
genehmen Eindruͤcke nicht achten, die aus den ſchoͤnen,
weiten, abwechſelnden und erhabenen Ausſichten der
Natur entſtehen, noch ſich an dem Geſang der Voͤgel
ergoͤtzen. Die feinere Empfindſamkeit wird alſo weni-
ger entwickelt. Daher auch die Vorſtellungskraft nicht,
und noch weniger die Denkkraft. Die Erfahrung be-
ſtaͤtigt dieſes. Jagende und fiſchende Voͤlker, die ſich
nur kuͤmmerlich ernaͤhren, bleiben ungemein an innerer
Selbſtthaͤtigkeit der Seele, an Empfindſamkeit und an
Vernunft zuruͤck. Nur die Koͤrperkraͤfte werden geuͤbt
und entwickelt. Als Shelkirk auf Juan Fernandez
Ziegen greifen mußte, um zu eſſen, erwarb er ſich die
Geſchicklichkeit, wie eine Ziege zu ſpringen und auf
Felſen zu klettern; aber er verlor dagegen den groͤßten
Theil ſeiner Sprache und der Vernunft.

Dagegen wuͤrde der gaͤnzliche Mangel an koͤrperli-
chen Beduͤrfniſſen, oder ein Ueberfluß an Sachen, wo-
mit man ihnen abhilft, noch ehe man ſie fuͤhlet, viel-

leicht
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[698/0728] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt auf das weitere Fortſchreiten weniger bedeuten, aber niemals ſind ſie ganz gleichguͤltig. Wenn der Baum ſchon im Schuß iſt, ſo kommt er auch in einem Boden fort, worinn er im Anfange ſeines Wachſens erſtickt ſeyn wuͤrde. Und dennoch iſt ihm niemals die Beſchaf- fenheit des Bodens gleichguͤltig. Jn einigen Faͤllen iſt dieſer Einfluß des Aeußern auf das Jnnere auffallend. Es iſt gewiß, daß die Seele zuruͤckbleibet, wo das thieriſche Leben allzu muͤhſelig iſt. Wenn der Menſch alles Beſtreben anwenden muß um ſich Nahrung zu verſchaffen, wie ſollte er Zeit haben die hoͤhere Denk- kraft zu uͤben? Jn der elenden Verfaſſung der Be- wohner des Feuerlandes ſind zwar Beduͤrfniſſe genug, die zur Thaͤtigkeit treiben, aber ſie ſind zu dringend und zu hinreißend, als daß auch die ſchwaͤchern ſollten bemerkt werden. Der Jaͤger, der Fiſcher, der alle Tage darauf ſinnen muß, um nicht zu verhungern, kann auf die an- genehmen Eindruͤcke nicht achten, die aus den ſchoͤnen, weiten, abwechſelnden und erhabenen Ausſichten der Natur entſtehen, noch ſich an dem Geſang der Voͤgel ergoͤtzen. Die feinere Empfindſamkeit wird alſo weni- ger entwickelt. Daher auch die Vorſtellungskraft nicht, und noch weniger die Denkkraft. Die Erfahrung be- ſtaͤtigt dieſes. Jagende und fiſchende Voͤlker, die ſich nur kuͤmmerlich ernaͤhren, bleiben ungemein an innerer Selbſtthaͤtigkeit der Seele, an Empfindſamkeit und an Vernunft zuruͤck. Nur die Koͤrperkraͤfte werden geuͤbt und entwickelt. Als Shelkirk auf Juan Fernandez Ziegen greifen mußte, um zu eſſen, erwarb er ſich die Geſchicklichkeit, wie eine Ziege zu ſpringen und auf Felſen zu klettern; aber er verlor dagegen den groͤßten Theil ſeiner Sprache und der Vernunft. Dagegen wuͤrde der gaͤnzliche Mangel an koͤrperli- chen Beduͤrfniſſen, oder ein Ueberfluß an Sachen, wo- mit man ihnen abhilft, noch ehe man ſie fuͤhlet, viel- leicht

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 698. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/728>, abgerufen am 25.11.2024.