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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
"durch Schwelgerey und Wollust hat er weder Leib
"noch Seele."

"Ueberhaupt ist jedes Aeußerste, in irgend einer
"Sache, das Größte und das Kleinste, der Vervollkomm-
"nung des Menschen hinderlich." Die starke Hitze, wie
der Frost, wenn man ihren Eindrücken nicht entgehen
oder sie nicht mildern kann, halten beide die Wirksam-
keit der Seele zurück. So in allen Stücken.

Unter dem Aberglauben kann die Menschheit nicht
gedeihen. Die Furcht fesselt die edelsten Triebe der
höhern Ueberlegungskraft und des Herzens. Er be-
nimmt dem Menschen die Zuversicht zu sich selbst, ohne
welche doch die Eigenmacht der Seele sich nie mit ihrer
ganzen Stärke äußern kann. Dazu zwingen seine Ge-
setze den Willen, und heben die eigene Macht auf bey
Handlungen, woran der Mensch am meisten seine Ueber-
legung und seine Freyheit üben und stärken sollte. Ohne
Glauben dagegen und ohne Religion, was würde als-
denn aus dem Menschen? Wo die Religionsideen feh-
len oder unwirksam sind, da fehlen die mächtigsten Trieb-
federn der Seele, und zwar die Triebfedern zu Bestre-
bungen, wovon die größten und erhabensten Vollkom-
menheiten im Verstande und im Herzen abhangen.

Die Sklaverey setzt den Menschen herunter, und
wenn sie mit dem Aberglauben verbunden ist, machet
sie ihn zu einem so niedrigen Wesen, als er werden kann.
Der Despotismus wirket auf die Selbstthätigkeit in
äußerlichen Handlungen; der Aberglaube auf die Thä-
tigkeit in den innern. Beide also vereiniget, gehen ge-
rade dem wesentlichen Vorzuge der Menschheit entgegen.
Jst Furcht das herrschende Princip in der Seele, so
kann weder die innere Geistesstärke noch die Glückselig-
keit vorzüglich etwas werth seyn. Dieß ist aber die Wir-
kung des Despotismus, und die Folge der Sklaverey.
Alles, was jene noch zuläßt, besteht in dem äußern sinn-

lichen

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
„durch Schwelgerey und Wolluſt hat er weder Leib
„noch Seele.‟

„Ueberhaupt iſt jedes Aeußerſte, in irgend einer
„Sache, das Groͤßte und das Kleinſte, der Vervollkomm-
„nung des Menſchen hinderlich.‟ Die ſtarke Hitze, wie
der Froſt, wenn man ihren Eindruͤcken nicht entgehen
oder ſie nicht mildern kann, halten beide die Wirkſam-
keit der Seele zuruͤck. So in allen Stuͤcken.

Unter dem Aberglauben kann die Menſchheit nicht
gedeihen. Die Furcht feſſelt die edelſten Triebe der
hoͤhern Ueberlegungskraft und des Herzens. Er be-
nimmt dem Menſchen die Zuverſicht zu ſich ſelbſt, ohne
welche doch die Eigenmacht der Seele ſich nie mit ihrer
ganzen Staͤrke aͤußern kann. Dazu zwingen ſeine Ge-
ſetze den Willen, und heben die eigene Macht auf bey
Handlungen, woran der Menſch am meiſten ſeine Ueber-
legung und ſeine Freyheit uͤben und ſtaͤrken ſollte. Ohne
Glauben dagegen und ohne Religion, was wuͤrde als-
denn aus dem Menſchen? Wo die Religionsideen feh-
len oder unwirkſam ſind, da fehlen die maͤchtigſten Trieb-
federn der Seele, und zwar die Triebfedern zu Beſtre-
bungen, wovon die groͤßten und erhabenſten Vollkom-
menheiten im Verſtande und im Herzen abhangen.

Die Sklaverey ſetzt den Menſchen herunter, und
wenn ſie mit dem Aberglauben verbunden iſt, machet
ſie ihn zu einem ſo niedrigen Weſen, als er werden kann.
Der Deſpotismus wirket auf die Selbſtthaͤtigkeit in
aͤußerlichen Handlungen; der Aberglaube auf die Thaͤ-
tigkeit in den innern. Beide alſo vereiniget, gehen ge-
rade dem weſentlichen Vorzuge der Menſchheit entgegen.
Jſt Furcht das herrſchende Princip in der Seele, ſo
kann weder die innere Geiſtesſtaͤrke noch die Gluͤckſelig-
keit vorzuͤglich etwas werth ſeyn. Dieß iſt aber die Wir-
kung des Deſpotismus, und die Folge der Sklaverey.
Alles, was jene noch zulaͤßt, beſteht in dem aͤußern ſinn-

lichen
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[700/0730] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt „durch Schwelgerey und Wolluſt hat er weder Leib „noch Seele.‟ „Ueberhaupt iſt jedes Aeußerſte, in irgend einer „Sache, das Groͤßte und das Kleinſte, der Vervollkomm- „nung des Menſchen hinderlich.‟ Die ſtarke Hitze, wie der Froſt, wenn man ihren Eindruͤcken nicht entgehen oder ſie nicht mildern kann, halten beide die Wirkſam- keit der Seele zuruͤck. So in allen Stuͤcken. Unter dem Aberglauben kann die Menſchheit nicht gedeihen. Die Furcht feſſelt die edelſten Triebe der hoͤhern Ueberlegungskraft und des Herzens. Er be- nimmt dem Menſchen die Zuverſicht zu ſich ſelbſt, ohne welche doch die Eigenmacht der Seele ſich nie mit ihrer ganzen Staͤrke aͤußern kann. Dazu zwingen ſeine Ge- ſetze den Willen, und heben die eigene Macht auf bey Handlungen, woran der Menſch am meiſten ſeine Ueber- legung und ſeine Freyheit uͤben und ſtaͤrken ſollte. Ohne Glauben dagegen und ohne Religion, was wuͤrde als- denn aus dem Menſchen? Wo die Religionsideen feh- len oder unwirkſam ſind, da fehlen die maͤchtigſten Trieb- federn der Seele, und zwar die Triebfedern zu Beſtre- bungen, wovon die groͤßten und erhabenſten Vollkom- menheiten im Verſtande und im Herzen abhangen. Die Sklaverey ſetzt den Menſchen herunter, und wenn ſie mit dem Aberglauben verbunden iſt, machet ſie ihn zu einem ſo niedrigen Weſen, als er werden kann. Der Deſpotismus wirket auf die Selbſtthaͤtigkeit in aͤußerlichen Handlungen; der Aberglaube auf die Thaͤ- tigkeit in den innern. Beide alſo vereiniget, gehen ge- rade dem weſentlichen Vorzuge der Menſchheit entgegen. Jſt Furcht das herrſchende Princip in der Seele, ſo kann weder die innere Geiſtesſtaͤrke noch die Gluͤckſelig- keit vorzuͤglich etwas werth ſeyn. Dieß iſt aber die Wir- kung des Deſpotismus, und die Folge der Sklaverey. Alles, was jene noch zulaͤßt, beſteht in dem aͤußern ſinn- lichen

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 700. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/730>, abgerufen am 24.11.2024.