lange das wahre Gefühl wirklich vorhandener Realitäten ersetzen, daß wenn nicht endlich der Unterschied zwischen Schein und Wahrheit auch seine großen Folgen auf das Gefühl haben müßte, das erträumte Wohl für den Menschen oft einen gleichen Werth haben müßte mit dem wahren, und zuweilen einen noch größern. Dann würden die Menschheit vervollkommnen, welches am Ende so viel ist, als ihre Vermögen und Kräfte erhö- hen, und sie beglücken, sehr unterschiedene Dinge seyn. Von einer Seite diese Beziehung zwischen Ver- vollkommnung und Glückseligkeit betrachtet, ist sie leicht erkannt. Aber wenn man den Menschen und sein Glück so ganz nimmt, wie es wirklich ist und dem uneinge- nommenen Beobachter sich zeiget: so muß es auch so leicht nicht seyn, jenes Verhältniß zu bestimmen, da es selbst in den Systemen der Philosophen verschiedentlich ange- geben ist.
2.
Zufriedenheit ist zur Glückseligkeit unentbehrlich. Aber wenn es behauptet wird, daß sie mit ihr einerley sey, so mag dieß vielleicht richtig seyn nach dem Begriff, den man alsdenn von ihr zum Grunde leget. Nur da, wo man Beyspiele anführt und Anwendungen davon macht, zeiget sichs, daß man entweder von dem ersten Begriff abgehe, oder die angeführten Beyspiele sehr un- vollständig betrachtet habe. Zufriedenheit, wie auch das Thier ihrer fähig ist, "ist ein Ebenmaß zwischen "den Begierden und ihrer Befriedigung, worinn kein "Mangel empfunden wird." Und dann kann sie mehr Abwesenheit des Schmerzens, als positive Glück- seligkeit seyn, weil sie eben so wohl aus der Schwäche der Begierden entspringen kann, als aus der Befriedi- gung derselben. Die unausgebildeten Kinder sind in diesem Sinne zufriedener als die vollkommensten Men- schen. Der Neuholländer ist es mehr als der Britte,
der
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
lange das wahre Gefuͤhl wirklich vorhandener Realitaͤten erſetzen, daß wenn nicht endlich der Unterſchied zwiſchen Schein und Wahrheit auch ſeine großen Folgen auf das Gefuͤhl haben muͤßte, das ertraͤumte Wohl fuͤr den Menſchen oft einen gleichen Werth haben muͤßte mit dem wahren, und zuweilen einen noch groͤßern. Dann wuͤrden die Menſchheit vervollkommnen, welches am Ende ſo viel iſt, als ihre Vermoͤgen und Kraͤfte erhoͤ- hen, und ſie begluͤcken, ſehr unterſchiedene Dinge ſeyn. Von einer Seite dieſe Beziehung zwiſchen Ver- vollkommnung und Gluͤckſeligkeit betrachtet, iſt ſie leicht erkannt. Aber wenn man den Menſchen und ſein Gluͤck ſo ganz nimmt, wie es wirklich iſt und dem uneinge- nommenen Beobachter ſich zeiget: ſo muß es auch ſo leicht nicht ſeyn, jenes Verhaͤltniß zu beſtimmen, da es ſelbſt in den Syſtemen der Philoſophen verſchiedentlich ange- geben iſt.
2.
Zufriedenheit iſt zur Gluͤckſeligkeit unentbehrlich. Aber wenn es behauptet wird, daß ſie mit ihr einerley ſey, ſo mag dieß vielleicht richtig ſeyn nach dem Begriff, den man alsdenn von ihr zum Grunde leget. Nur da, wo man Beyſpiele anfuͤhrt und Anwendungen davon macht, zeiget ſichs, daß man entweder von dem erſten Begriff abgehe, oder die angefuͤhrten Beyſpiele ſehr un- vollſtaͤndig betrachtet habe. Zufriedenheit, wie auch das Thier ihrer faͤhig iſt, „iſt ein Ebenmaß zwiſchen „den Begierden und ihrer Befriedigung, worinn kein „Mangel empfunden wird.“ Und dann kann ſie mehr Abweſenheit des Schmerzens, als poſitive Gluͤck- ſeligkeit ſeyn, weil ſie eben ſo wohl aus der Schwaͤche der Begierden entſpringen kann, als aus der Befriedi- gung derſelben. Die unausgebildeten Kinder ſind in dieſem Sinne zufriedener als die vollkommenſten Men- ſchen. Der Neuhollaͤnder iſt es mehr als der Britte,
der
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XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
lange das wahre Gefuͤhl wirklich vorhandener Realitaͤten
erſetzen, daß wenn nicht endlich der Unterſchied zwiſchen
Schein und Wahrheit auch ſeine großen Folgen auf das
Gefuͤhl haben muͤßte, das ertraͤumte Wohl fuͤr den
Menſchen oft einen gleichen Werth haben muͤßte mit dem
wahren, und zuweilen einen noch groͤßern. Dann
wuͤrden die Menſchheit vervollkommnen, welches am
Ende ſo viel iſt, als ihre Vermoͤgen und Kraͤfte erhoͤ-
hen, und ſie begluͤcken, ſehr unterſchiedene Dinge
ſeyn. Von einer Seite dieſe Beziehung zwiſchen Ver-
vollkommnung und Gluͤckſeligkeit betrachtet, iſt ſie leicht
erkannt. Aber wenn man den Menſchen und ſein Gluͤck
ſo ganz nimmt, wie es wirklich iſt und dem uneinge-
nommenen Beobachter ſich zeiget: ſo muß es auch ſo leicht
nicht ſeyn, jenes Verhaͤltniß zu beſtimmen, da es ſelbſt
in den Syſtemen der Philoſophen verſchiedentlich ange-
geben iſt.
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Zufriedenheit iſt zur Gluͤckſeligkeit unentbehrlich.
Aber wenn es behauptet wird, daß ſie mit ihr einerley
ſey, ſo mag dieß vielleicht richtig ſeyn nach dem Begriff,
den man alsdenn von ihr zum Grunde leget. Nur da,
wo man Beyſpiele anfuͤhrt und Anwendungen davon
macht, zeiget ſichs, daß man entweder von dem erſten
Begriff abgehe, oder die angefuͤhrten Beyſpiele ſehr un-
vollſtaͤndig betrachtet habe. Zufriedenheit, wie auch
das Thier ihrer faͤhig iſt, „iſt ein Ebenmaß zwiſchen
„den Begierden und ihrer Befriedigung, worinn kein
„Mangel empfunden wird.“ Und dann kann ſie mehr
Abweſenheit des Schmerzens, als poſitive Gluͤck-
ſeligkeit ſeyn, weil ſie eben ſo wohl aus der Schwaͤche
der Begierden entſpringen kann, als aus der Befriedi-
gung derſelben. Die unausgebildeten Kinder ſind in
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 792. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/822>, abgerufen am 24.11.2024.
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