Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
muß auch nach ihr gestrebet werden. Es giebt ein na-
türliches Ziel des Lebens; deßwegen wir doch nicht zu
fürchten haben, solches zu überschreiten.

4.

Nach den Grundsätzen des Hr. Rousseau würde
die Entwickelung, wobey der Mensch am glücklichsten
wäre, wohl aufhören müssen, wenn die thierischen
Kräfte und die Sinnlichkeit so weit sind, daß er, sich zu
erhalten, als Waldbewohner leben und sein Geschlecht
fortpflanzen kann. So niedrig hat Hr. Wieland die
Grenze der glücklichsten Ausbildung nicht gesetzt. Der
Mensch kann und muß mehr seyn, als ein glückliches
Thier. Aber das meinet der letztgenannte vortrefliche
Schriftsteller, es gebe doch ein gewisses Maß der in-
nern Entwickelung, wenn diese so seyn soll, wie sie zu
der höchsten Glückseligkeit, der die menschliche Natur
fähig ist, am besten paßt. Die höchste Glückselig-
keit,
zu der alle Triebe der Natur, alle Bestrebungen,
und auch die Wünsche des Herzens, zusammenlaufen,
bestehe in dem reinen unthätigen Genuß der sinnli-
chen Vergnügungen, den weder Sorgen noch Schmer-
zen unterbrechen. Diese Jdee liege in dem Menschen,
und sey tief in der Einrichtung seiner Natur gegründet.
Was ein entscheidender Beweis davon sey, so dürfe
man sich nur erinnern, daß die aufgeklärtesten Völker
ihre elyseische Felder, ihre Paradiese und ihre Himmel
als einen solchen Zustand vorgebildet haben.

Jst es so, ist Sybarit zu seyn die höchste Glückse-
ligkeit des Menschen: so wird es auch möglich seyn, daß
er allzu weise und allzu tugendhaft werde, um jener
theilhaft zu werden. Darum darf er eben nicht der
rohe Sohn der Natur bleiben. Das Wohlseyn im
Körper muß besorget, die Gegenstände des Vergnü-
gens herbeygeschaffet und der Sinn zum Genuß dessel-

ben

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
muß auch nach ihr geſtrebet werden. Es giebt ein na-
tuͤrliches Ziel des Lebens; deßwegen wir doch nicht zu
fuͤrchten haben, ſolches zu uͤberſchreiten.

4.

Nach den Grundſaͤtzen des Hr. Rouſſeau wuͤrde
die Entwickelung, wobey der Menſch am gluͤcklichſten
waͤre, wohl aufhoͤren muͤſſen, wenn die thieriſchen
Kraͤfte und die Sinnlichkeit ſo weit ſind, daß er, ſich zu
erhalten, als Waldbewohner leben und ſein Geſchlecht
fortpflanzen kann. So niedrig hat Hr. Wieland die
Grenze der gluͤcklichſten Ausbildung nicht geſetzt. Der
Menſch kann und muß mehr ſeyn, als ein gluͤckliches
Thier. Aber das meinet der letztgenannte vortrefliche
Schriftſteller, es gebe doch ein gewiſſes Maß der in-
nern Entwickelung, wenn dieſe ſo ſeyn ſoll, wie ſie zu
der hoͤchſten Gluͤckſeligkeit, der die menſchliche Natur
faͤhig iſt, am beſten paßt. Die hoͤchſte Gluͤckſelig-
keit,
zu der alle Triebe der Natur, alle Beſtrebungen,
und auch die Wuͤnſche des Herzens, zuſammenlaufen,
beſtehe in dem reinen unthaͤtigen Genuß der ſinnli-
chen Vergnuͤgungen, den weder Sorgen noch Schmer-
zen unterbrechen. Dieſe Jdee liege in dem Menſchen,
und ſey tief in der Einrichtung ſeiner Natur gegruͤndet.
Was ein entſcheidender Beweis davon ſey, ſo duͤrfe
man ſich nur erinnern, daß die aufgeklaͤrteſten Voͤlker
ihre elyſeiſche Felder, ihre Paradieſe und ihre Himmel
als einen ſolchen Zuſtand vorgebildet haben.

Jſt es ſo, iſt Sybarit zu ſeyn die hoͤchſte Gluͤckſe-
ligkeit des Menſchen: ſo wird es auch moͤglich ſeyn, daß
er allzu weiſe und allzu tugendhaft werde, um jener
theilhaft zu werden. Darum darf er eben nicht der
rohe Sohn der Natur bleiben. Das Wohlſeyn im
Koͤrper muß beſorget, die Gegenſtaͤnde des Vergnuͤ-
gens herbeygeſchaffet und der Sinn zum Genuß deſſel-

ben
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0826" n="796"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIV.</hi> Ver&#x017F;. Ueber die Perfektibilita&#x0364;t</hi></fw><lb/>
muß auch nach ihr ge&#x017F;trebet werden. Es giebt ein na-<lb/>
tu&#x0364;rliches Ziel des Lebens; deßwegen wir doch nicht zu<lb/>
fu&#x0364;rchten haben, &#x017F;olches zu u&#x0364;ber&#x017F;chreiten.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>4.</head><lb/>
            <p>Nach den Grund&#x017F;a&#x0364;tzen des Hr. <hi rendition="#fr">Rou&#x017F;&#x017F;eau</hi> wu&#x0364;rde<lb/>
die Entwickelung, wobey der Men&#x017F;ch am glu&#x0364;cklich&#x017F;ten<lb/>
wa&#x0364;re, wohl aufho&#x0364;ren mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, wenn die thieri&#x017F;chen<lb/>
Kra&#x0364;fte und die Sinnlichkeit &#x017F;o weit &#x017F;ind, daß er, &#x017F;ich zu<lb/>
erhalten, als Waldbewohner leben und &#x017F;ein Ge&#x017F;chlecht<lb/>
fortpflanzen kann. So niedrig hat Hr. <hi rendition="#fr">Wieland</hi> die<lb/>
Grenze der glu&#x0364;cklich&#x017F;ten Ausbildung nicht ge&#x017F;etzt. Der<lb/>
Men&#x017F;ch kann und muß mehr &#x017F;eyn, als ein glu&#x0364;ckliches<lb/>
Thier. Aber das meinet der letztgenannte vortrefliche<lb/>
Schrift&#x017F;teller, es gebe doch ein gewi&#x017F;&#x017F;es Maß der in-<lb/>
nern Entwickelung, wenn die&#x017F;e &#x017F;o &#x017F;eyn &#x017F;oll, wie &#x017F;ie zu<lb/>
der ho&#x0364;ch&#x017F;ten Glu&#x0364;ck&#x017F;eligkeit, der die men&#x017F;chliche Natur<lb/>
fa&#x0364;hig i&#x017F;t, am be&#x017F;ten paßt. Die <hi rendition="#fr">ho&#x0364;ch&#x017F;te Glu&#x0364;ck&#x017F;elig-<lb/>
keit,</hi> zu der alle Triebe der Natur, alle Be&#x017F;trebungen,<lb/>
und auch die Wu&#x0364;n&#x017F;che des Herzens, zu&#x017F;ammenlaufen,<lb/>
be&#x017F;tehe in dem <hi rendition="#fr">reinen untha&#x0364;tigen</hi> Genuß der &#x017F;innli-<lb/>
chen Vergnu&#x0364;gungen, den weder Sorgen noch Schmer-<lb/>
zen unterbrechen. Die&#x017F;e Jdee liege in dem Men&#x017F;chen,<lb/>
und &#x017F;ey tief in der Einrichtung &#x017F;einer Natur gegru&#x0364;ndet.<lb/>
Was ein ent&#x017F;cheidender Beweis davon &#x017F;ey, &#x017F;o du&#x0364;rfe<lb/>
man &#x017F;ich nur erinnern, daß die aufgekla&#x0364;rte&#x017F;ten Vo&#x0364;lker<lb/>
ihre ely&#x017F;ei&#x017F;che Felder, ihre Paradie&#x017F;e und ihre Himmel<lb/>
als einen &#x017F;olchen Zu&#x017F;tand vorgebildet haben.</p><lb/>
            <p>J&#x017F;t es &#x017F;o, i&#x017F;t Sybarit zu &#x017F;eyn die ho&#x0364;ch&#x017F;te Glu&#x0364;ck&#x017F;e-<lb/>
ligkeit des Men&#x017F;chen: &#x017F;o wird es auch mo&#x0364;glich &#x017F;eyn, daß<lb/>
er allzu wei&#x017F;e und allzu tugendhaft werde, um jener<lb/>
theilhaft zu werden. Darum darf er eben nicht der<lb/>
rohe Sohn der Natur bleiben. Das Wohl&#x017F;eyn im<lb/>
Ko&#x0364;rper muß be&#x017F;orget, die Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde des Vergnu&#x0364;-<lb/>
gens herbeyge&#x017F;chaffet und der Sinn zum Genuß de&#x017F;&#x017F;el-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ben</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[796/0826] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt muß auch nach ihr geſtrebet werden. Es giebt ein na- tuͤrliches Ziel des Lebens; deßwegen wir doch nicht zu fuͤrchten haben, ſolches zu uͤberſchreiten. 4. Nach den Grundſaͤtzen des Hr. Rouſſeau wuͤrde die Entwickelung, wobey der Menſch am gluͤcklichſten waͤre, wohl aufhoͤren muͤſſen, wenn die thieriſchen Kraͤfte und die Sinnlichkeit ſo weit ſind, daß er, ſich zu erhalten, als Waldbewohner leben und ſein Geſchlecht fortpflanzen kann. So niedrig hat Hr. Wieland die Grenze der gluͤcklichſten Ausbildung nicht geſetzt. Der Menſch kann und muß mehr ſeyn, als ein gluͤckliches Thier. Aber das meinet der letztgenannte vortrefliche Schriftſteller, es gebe doch ein gewiſſes Maß der in- nern Entwickelung, wenn dieſe ſo ſeyn ſoll, wie ſie zu der hoͤchſten Gluͤckſeligkeit, der die menſchliche Natur faͤhig iſt, am beſten paßt. Die hoͤchſte Gluͤckſelig- keit, zu der alle Triebe der Natur, alle Beſtrebungen, und auch die Wuͤnſche des Herzens, zuſammenlaufen, beſtehe in dem reinen unthaͤtigen Genuß der ſinnli- chen Vergnuͤgungen, den weder Sorgen noch Schmer- zen unterbrechen. Dieſe Jdee liege in dem Menſchen, und ſey tief in der Einrichtung ſeiner Natur gegruͤndet. Was ein entſcheidender Beweis davon ſey, ſo duͤrfe man ſich nur erinnern, daß die aufgeklaͤrteſten Voͤlker ihre elyſeiſche Felder, ihre Paradieſe und ihre Himmel als einen ſolchen Zuſtand vorgebildet haben. Jſt es ſo, iſt Sybarit zu ſeyn die hoͤchſte Gluͤckſe- ligkeit des Menſchen: ſo wird es auch moͤglich ſeyn, daß er allzu weiſe und allzu tugendhaft werde, um jener theilhaft zu werden. Darum darf er eben nicht der rohe Sohn der Natur bleiben. Das Wohlſeyn im Koͤrper muß beſorget, die Gegenſtaͤnde des Vergnuͤ- gens herbeygeſchaffet und der Sinn zum Genuß deſſel- ben

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/826
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 796. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/826>, abgerufen am 24.11.2024.