Und obgleich das erstere immer bestehende angenehme Gefühl das letztere unangenehme in etwas mindert, und nicht, was sonsten einer schwächern Empfindung wider- fährt, zu einem Mittel wird, das entgegengesetzte zu verstärken, so kann doch die ganze zusammengesetzte Em- pfindung eine wahre Quaal seyn. Eine große Kraft kann sich in einer rastlosen Leidenschaft verzehren, ohne durch Gefühle glücklicher Erfolge erquickt zu werden.
Diese Verschiedenheit der angenehmen Empfindun- gen, in Hinsicht ihrer Abhängigkeit von der innern Verfassung des Menschen und von äußern Umständen, hindert es, daß man den Menschen nicht in der gleichen Maße für glückselig halten kann, wie er innerlich voll- kommen ist. Es kommt freylich nur noch darauf an, wie hoch wir die eine Gattung in Vergleichung mit der andern schätzen? ob alles, was zu dem abhängigen Wohl gehört, als etwas äußeres uns nichts angehen- des, oder doch als wenig bedeutendes, zu betrachten ist? Nimmt man den Menschen wie er ist, so ist die Selbst- genügsamkeit der Stoiker offenbar etwas übertriebe- nes. Selbst Verstand und Tugend, als menschliche Kräfte können durch äußere Zufälle zerstöret werden, wenn sie gleich als Vermögen in der einfachen Seele un- gekränkt bleiben. Wie wichtig sind nicht Furcht und Hoffnung, die ein Mensch heget, für seine Glückselig- keit. Und dennoch hängen beide nicht blos von den Gra- den der Vollkommenheit in der Vorstellungskraft, dem Verstande und dem Herzen ab, sondern auch von der Beschaffenheit der Kenntnisse, die uns durch die Umstände und durch den Unterricht von den Sachen zugesührt werden. Nicht gänzlich, sage ich; denn sonsten stehen allerdings die Erwartungen der Zukunft mit der innern Vollkommenheit der Kräfte in Verbindung, und beru- hen auf dieser, mehr als gemeiniglich geglaubt wird. Jnneres Gefühl von Güte und Größe, zumal in den
Ge-
IITheil. F f f
und Entwickelung des Menſchen.
Und obgleich das erſtere immer beſtehende angenehme Gefuͤhl das letztere unangenehme in etwas mindert, und nicht, was ſonſten einer ſchwaͤchern Empfindung wider- faͤhrt, zu einem Mittel wird, das entgegengeſetzte zu verſtaͤrken, ſo kann doch die ganze zuſammengeſetzte Em- pfindung eine wahre Quaal ſeyn. Eine große Kraft kann ſich in einer raſtloſen Leidenſchaft verzehren, ohne durch Gefuͤhle gluͤcklicher Erfolge erquickt zu werden.
Dieſe Verſchiedenheit der angenehmen Empfindun- gen, in Hinſicht ihrer Abhaͤngigkeit von der innern Verfaſſung des Menſchen und von aͤußern Umſtaͤnden, hindert es, daß man den Menſchen nicht in der gleichen Maße fuͤr gluͤckſelig halten kann, wie er innerlich voll- kommen iſt. Es kommt freylich nur noch darauf an, wie hoch wir die eine Gattung in Vergleichung mit der andern ſchaͤtzen? ob alles, was zu dem abhaͤngigen Wohl gehoͤrt, als etwas aͤußeres uns nichts angehen- des, oder doch als wenig bedeutendes, zu betrachten iſt? Nimmt man den Menſchen wie er iſt, ſo iſt die Selbſt- genuͤgſamkeit der Stoiker offenbar etwas uͤbertriebe- nes. Selbſt Verſtand und Tugend, als menſchliche Kraͤfte koͤnnen durch aͤußere Zufaͤlle zerſtoͤret werden, wenn ſie gleich als Vermoͤgen in der einfachen Seele un- gekraͤnkt bleiben. Wie wichtig ſind nicht Furcht und Hoffnung, die ein Menſch heget, fuͤr ſeine Gluͤckſelig- keit. Und dennoch haͤngen beide nicht blos von den Gra- den der Vollkommenheit in der Vorſtellungskraft, dem Verſtande und dem Herzen ab, ſondern auch von der Beſchaffenheit der Kenntniſſe, die uns durch die Umſtaͤnde und durch den Unterricht von den Sachen zugeſuͤhrt werden. Nicht gaͤnzlich, ſage ich; denn ſonſten ſtehen allerdings die Erwartungen der Zukunft mit der innern Vollkommenheit der Kraͤfte in Verbindung, und beru- hen auf dieſer, mehr als gemeiniglich geglaubt wird. Jnneres Gefuͤhl von Guͤte und Groͤße, zumal in den
Ge-
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und Entwickelung des Menſchen.
Und obgleich das erſtere immer beſtehende angenehme
Gefuͤhl das letztere unangenehme in etwas mindert, und
nicht, was ſonſten einer ſchwaͤchern Empfindung wider-
faͤhrt, zu einem Mittel wird, das entgegengeſetzte zu
verſtaͤrken, ſo kann doch die ganze zuſammengeſetzte Em-
pfindung eine wahre Quaal ſeyn. Eine große Kraft
kann ſich in einer raſtloſen Leidenſchaft verzehren, ohne
durch Gefuͤhle gluͤcklicher Erfolge erquickt zu werden.
Dieſe Verſchiedenheit der angenehmen Empfindun-
gen, in Hinſicht ihrer Abhaͤngigkeit von der innern
Verfaſſung des Menſchen und von aͤußern Umſtaͤnden,
hindert es, daß man den Menſchen nicht in der gleichen
Maße fuͤr gluͤckſelig halten kann, wie er innerlich voll-
kommen iſt. Es kommt freylich nur noch darauf an,
wie hoch wir die eine Gattung in Vergleichung mit der
andern ſchaͤtzen? ob alles, was zu dem abhaͤngigen
Wohl gehoͤrt, als etwas aͤußeres uns nichts angehen-
des, oder doch als wenig bedeutendes, zu betrachten iſt?
Nimmt man den Menſchen wie er iſt, ſo iſt die Selbſt-
genuͤgſamkeit der Stoiker offenbar etwas uͤbertriebe-
nes. Selbſt Verſtand und Tugend, als menſchliche
Kraͤfte koͤnnen durch aͤußere Zufaͤlle zerſtoͤret werden,
wenn ſie gleich als Vermoͤgen in der einfachen Seele un-
gekraͤnkt bleiben. Wie wichtig ſind nicht Furcht und
Hoffnung, die ein Menſch heget, fuͤr ſeine Gluͤckſelig-
keit. Und dennoch haͤngen beide nicht blos von den Gra-
den der Vollkommenheit in der Vorſtellungskraft, dem
Verſtande und dem Herzen ab, ſondern auch von der
Beſchaffenheit der Kenntniſſe, die uns durch die Umſtaͤnde
und durch den Unterricht von den Sachen zugeſuͤhrt
werden. Nicht gaͤnzlich, ſage ich; denn ſonſten ſtehen
allerdings die Erwartungen der Zukunft mit der innern
Vollkommenheit der Kraͤfte in Verbindung, und beru-
hen auf dieſer, mehr als gemeiniglich geglaubt wird.
Jnneres Gefuͤhl von Guͤte und Groͤße, zumal in den
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 817. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/847>, abgerufen am 22.11.2024.
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