gessen werden. Aber daß ja die Menschenfeindschaft, die Bosheit und die Tyranney sich nicht damit bedecke. Der offene Verstand entreisset ihr diesen Schleier. Schmerz ohne eine wahre Nothwendigkeit einem em- pfindenden Menschen verursachen, heißt ihn erbittern, so bald ers gewahr wird, daß mans thue, niemals ihn bessern. Schmerz von außen kann überhaupt nur Böses, nur Hindernisse des Guten zurückhalten, höchstens auch die trägen Kräfte zuerst aufwecken und ihnen den ersten Stoß geben. Aber die Neigung zum Guten und die Lust an Thätigkeit erfodert, daß diese für sich selbst an- genehm werde und gefalle, der Gefühle wegen, die mit ihr selbst verbunden sind. Wer den Menschen vervoll- kommnen will, muß machen, daß ihm selbst sein eigenes Bestreben darnach angenehm werde.
10.
Es hat die menschliche Glückseligkeit in den verschie- denen Jndividuen und in den verschiedenen Völkern, so wie sie wirklich in der Welt ist, eben so verschiedene Gestalten als die Menschheit selbst. Und wenn man sie der Größe nach, die sie in diesen Formen hat, mit einander vergleichet, so findet man auch hier im Großen, was nachher gesagt ist, daß sie zwar nicht völlig, aber doch beinahe in demselbigen Verhältniß stehe, wie die innere Auswickelung und Vollkommenheit, zu der die Menschheit gekommen ist. Auch wird man leicht be- merken, daß es eine gewisse Gleichheit aller Menschen in Hinsicht ihres Wohls gebe, die einigermaßen das Pa- rallel zu ihrer Gleichheit an Vervollkommnung ist. Sollte man nicht überdieß noch den gemeinschaftlichen Grad der Menschenglückseligkeit für größer und wichtiger halten müssen, als den Stufenunterschied bey den Jndividuen? Jch glaube, es lasse sich dieß eben so gut behaupten, als in Hinsicht der Entwickelung; wobey aber auch hier so wohl in Hinsicht einiger vorzüglich Elenden eine Aus-
nahme
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
geſſen werden. Aber daß ja die Menſchenfeindſchaft, die Bosheit und die Tyranney ſich nicht damit bedecke. Der offene Verſtand entreiſſet ihr dieſen Schleier. Schmerz ohne eine wahre Nothwendigkeit einem em- pfindenden Menſchen verurſachen, heißt ihn erbittern, ſo bald ers gewahr wird, daß mans thue, niemals ihn beſſern. Schmerz von außen kann uͤberhaupt nur Boͤſes, nur Hinderniſſe des Guten zuruͤckhalten, hoͤchſtens auch die traͤgen Kraͤfte zuerſt aufwecken und ihnen den erſten Stoß geben. Aber die Neigung zum Guten und die Luſt an Thaͤtigkeit erfodert, daß dieſe fuͤr ſich ſelbſt an- genehm werde und gefalle, der Gefuͤhle wegen, die mit ihr ſelbſt verbunden ſind. Wer den Menſchen vervoll- kommnen will, muß machen, daß ihm ſelbſt ſein eigenes Beſtreben darnach angenehm werde.
10.
Es hat die menſchliche Gluͤckſeligkeit in den verſchie- denen Jndividuen und in den verſchiedenen Voͤlkern, ſo wie ſie wirklich in der Welt iſt, eben ſo verſchiedene Geſtalten als die Menſchheit ſelbſt. Und wenn man ſie der Groͤße nach, die ſie in dieſen Formen hat, mit einander vergleichet, ſo findet man auch hier im Großen, was nachher geſagt iſt, daß ſie zwar nicht voͤllig, aber doch beinahe in demſelbigen Verhaͤltniß ſtehe, wie die innere Auswickelung und Vollkommenheit, zu der die Menſchheit gekommen iſt. Auch wird man leicht be- merken, daß es eine gewiſſe Gleichheit aller Menſchen in Hinſicht ihres Wohls gebe, die einigermaßen das Pa- rallel zu ihrer Gleichheit an Vervollkommnung iſt. Sollte man nicht uͤberdieß noch den gemeinſchaftlichen Grad der Menſchengluͤckſeligkeit fuͤr groͤßer und wichtiger halten muͤſſen, als den Stufenunterſchied bey den Jndividuen? Jch glaube, es laſſe ſich dieß eben ſo gut behaupten, als in Hinſicht der Entwickelung; wobey aber auch hier ſo wohl in Hinſicht einiger vorzuͤglich Elenden eine Aus-
nahme
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0850"n="820"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#aq">XIV.</hi> Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt</hi></fw><lb/>
geſſen werden. Aber daß ja die Menſchenfeindſchaft,<lb/>
die Bosheit und die Tyranney ſich nicht damit bedecke.<lb/>
Der offene Verſtand entreiſſet ihr dieſen Schleier.<lb/>
Schmerz ohne eine wahre Nothwendigkeit einem em-<lb/>
pfindenden Menſchen verurſachen, heißt ihn erbittern, ſo<lb/>
bald ers gewahr wird, daß mans thue, niemals ihn<lb/>
beſſern. Schmerz von außen kann uͤberhaupt nur Boͤſes,<lb/>
nur Hinderniſſe des Guten zuruͤckhalten, hoͤchſtens auch<lb/>
die traͤgen Kraͤfte zuerſt aufwecken und ihnen den erſten<lb/>
Stoß geben. Aber die Neigung zum Guten und die<lb/>
Luſt an Thaͤtigkeit erfodert, daß dieſe fuͤr ſich ſelbſt an-<lb/>
genehm werde und gefalle, der Gefuͤhle wegen, die mit<lb/>
ihr ſelbſt verbunden ſind. Wer den Menſchen vervoll-<lb/>
kommnen will, muß machen, daß ihm ſelbſt ſein eigenes<lb/>
Beſtreben darnach angenehm werde.</p></div><lb/><divn="3"><head>10.</head><lb/><p>Es hat die menſchliche Gluͤckſeligkeit in den verſchie-<lb/>
denen Jndividuen und in den verſchiedenen Voͤlkern,<lb/>ſo wie ſie wirklich in der Welt iſt, eben ſo verſchiedene<lb/>
Geſtalten als die Menſchheit ſelbſt. Und wenn man<lb/>ſie der Groͤße nach, die ſie in dieſen Formen hat, mit<lb/>
einander vergleichet, ſo findet man auch hier im Großen,<lb/>
was nachher geſagt iſt, daß ſie zwar nicht voͤllig, aber<lb/>
doch beinahe in demſelbigen Verhaͤltniß ſtehe, wie die<lb/>
innere Auswickelung und Vollkommenheit, zu der die<lb/>
Menſchheit gekommen iſt. Auch wird man leicht be-<lb/>
merken, daß es eine gewiſſe Gleichheit aller Menſchen in<lb/>
Hinſicht ihres Wohls gebe, die einigermaßen das Pa-<lb/>
rallel zu ihrer Gleichheit an Vervollkommnung iſt. Sollte<lb/>
man nicht uͤberdieß noch den gemeinſchaftlichen Grad der<lb/>
Menſchengluͤckſeligkeit fuͤr groͤßer und wichtiger halten<lb/>
muͤſſen, als den Stufenunterſchied bey den Jndividuen?<lb/>
Jch glaube, es laſſe ſich dieß eben ſo gut behaupten, als<lb/>
in Hinſicht der Entwickelung; wobey aber auch hier ſo<lb/>
wohl in Hinſicht einiger vorzuͤglich Elenden eine Aus-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">nahme</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[820/0850]
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
geſſen werden. Aber daß ja die Menſchenfeindſchaft,
die Bosheit und die Tyranney ſich nicht damit bedecke.
Der offene Verſtand entreiſſet ihr dieſen Schleier.
Schmerz ohne eine wahre Nothwendigkeit einem em-
pfindenden Menſchen verurſachen, heißt ihn erbittern, ſo
bald ers gewahr wird, daß mans thue, niemals ihn
beſſern. Schmerz von außen kann uͤberhaupt nur Boͤſes,
nur Hinderniſſe des Guten zuruͤckhalten, hoͤchſtens auch
die traͤgen Kraͤfte zuerſt aufwecken und ihnen den erſten
Stoß geben. Aber die Neigung zum Guten und die
Luſt an Thaͤtigkeit erfodert, daß dieſe fuͤr ſich ſelbſt an-
genehm werde und gefalle, der Gefuͤhle wegen, die mit
ihr ſelbſt verbunden ſind. Wer den Menſchen vervoll-
kommnen will, muß machen, daß ihm ſelbſt ſein eigenes
Beſtreben darnach angenehm werde.
10.
Es hat die menſchliche Gluͤckſeligkeit in den verſchie-
denen Jndividuen und in den verſchiedenen Voͤlkern,
ſo wie ſie wirklich in der Welt iſt, eben ſo verſchiedene
Geſtalten als die Menſchheit ſelbſt. Und wenn man
ſie der Groͤße nach, die ſie in dieſen Formen hat, mit
einander vergleichet, ſo findet man auch hier im Großen,
was nachher geſagt iſt, daß ſie zwar nicht voͤllig, aber
doch beinahe in demſelbigen Verhaͤltniß ſtehe, wie die
innere Auswickelung und Vollkommenheit, zu der die
Menſchheit gekommen iſt. Auch wird man leicht be-
merken, daß es eine gewiſſe Gleichheit aller Menſchen in
Hinſicht ihres Wohls gebe, die einigermaßen das Pa-
rallel zu ihrer Gleichheit an Vervollkommnung iſt. Sollte
man nicht uͤberdieß noch den gemeinſchaftlichen Grad der
Menſchengluͤckſeligkeit fuͤr groͤßer und wichtiger halten
muͤſſen, als den Stufenunterſchied bey den Jndividuen?
Jch glaube, es laſſe ſich dieß eben ſo gut behaupten, als
in Hinſicht der Entwickelung; wobey aber auch hier ſo
wohl in Hinſicht einiger vorzuͤglich Elenden eine Aus-
nahme
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 820. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/850>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.