Bey unsern einzelnen Handlungen den Grad der Selbstthätigkeit in seiner völligen Schärfe zu bestimmen, das geht ohne Zweifel über alle unsere Kräfte. Nur der Allwissende beurtheilet unsere individuellen Kraft- äußerungen nach einer völlig gerechten Wage, die es genau angiebt, was und wie viel unserm Jch, uns als Seele zukommt, und wie viel dem Einflusse äußerer Umstände beyzumessen sey, von denen viele allzu sehr im Dunkeln liegen, als daß unser Auge sie entdecken könnnte. Aber dieß macht unsere deutlichen Selbstge- fühle nicht unzuverläßig, die uns doch die Unterschiede, so weit es uns in Beziehung auf unsere sonstigen Kennt- nisse um sie zu thun seyn kann, deutlich genug vorhalten.
Wir fühlen es oft, daß Empfindungen, Vorstel- lungen, Bewegungsgründe uns bestimmen und fort- drücken, auf eine Art die der ähnlich ist, auf welche die Schale an der Wage, die im Gleichgewicht stehet von dem Uebergewicht niedergedrückt wird; daß sie uns ziehen und zuweilen stoßen. Jn diesen Fällen sagen wir, wenn wir eigentlich reden, nicht, daß wir uns selbst bestimmen; wir werden vielmehr bestimmt, hingeris- sen, und die erfolgende Aktion wird uns abgezwungen.
Es mag seyn, daß die Thätigkeit, welche alsdenn erfolget, eine Thätigkeit unsers innern Princips sey; zuweilen scheinet sie dieß nicht zu seyn; aber es wird unsere innere Selbstkraft doch von der hinzukommenden Empfindung oder Vorstellung modificirt, und nun erst durch diese neue Bestimmung zu einem innerlich zurei- chenden Grunde gemacht, wovon der gegenwärtige Trieb, das Bestreben, oder die Aktion, so wie sie erfolget, abhangen. Daß wir gerade zu derjenigen Kraftäußerung bestimmet sind, welche unter diesen Umständen entspringt, hängt alsdenn von dem Einflusse der Empfindung oder der uns gefallenden Vorstellung ab, von der wir modificirt sind, und ist also selbst kein Werk unserer Eigenmacht.
Spricht
XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
Bey unſern einzelnen Handlungen den Grad der Selbſtthaͤtigkeit in ſeiner voͤlligen Schaͤrfe zu beſtimmen, das geht ohne Zweifel uͤber alle unſere Kraͤfte. Nur der Allwiſſende beurtheilet unſere individuellen Kraft- aͤußerungen nach einer voͤllig gerechten Wage, die es genau angiebt, was und wie viel unſerm Jch, uns als Seele zukommt, und wie viel dem Einfluſſe aͤußerer Umſtaͤnde beyzumeſſen ſey, von denen viele allzu ſehr im Dunkeln liegen, als daß unſer Auge ſie entdecken koͤnnnte. Aber dieß macht unſere deutlichen Selbſtge- fuͤhle nicht unzuverlaͤßig, die uns doch die Unterſchiede, ſo weit es uns in Beziehung auf unſere ſonſtigen Kennt- niſſe um ſie zu thun ſeyn kann, deutlich genug vorhalten.
Wir fuͤhlen es oft, daß Empfindungen, Vorſtel- lungen, Bewegungsgruͤnde uns beſtimmen und fort- druͤcken, auf eine Art die der aͤhnlich iſt, auf welche die Schale an der Wage, die im Gleichgewicht ſtehet von dem Uebergewicht niedergedruͤckt wird; daß ſie uns ziehen und zuweilen ſtoßen. Jn dieſen Faͤllen ſagen wir, wenn wir eigentlich reden, nicht, daß wir uns ſelbſt beſtimmen; wir werden vielmehr beſtimmt, hingeriſ- ſen, und die erfolgende Aktion wird uns abgezwungen.
Es mag ſeyn, daß die Thaͤtigkeit, welche alsdenn erfolget, eine Thaͤtigkeit unſers innern Princips ſey; zuweilen ſcheinet ſie dieß nicht zu ſeyn; aber es wird unſere innere Selbſtkraft doch von der hinzukommenden Empfindung oder Vorſtellung modificirt, und nun erſt durch dieſe neue Beſtimmung zu einem innerlich zurei- chenden Grunde gemacht, wovon der gegenwaͤrtige Trieb, das Beſtreben, oder die Aktion, ſo wie ſie erfolget, abhangen. Daß wir gerade zu derjenigen Kraftaͤußerung beſtimmet ſind, welche unter dieſen Umſtaͤnden entſpringt, haͤngt alsdenn von dem Einfluſſe der Empfindung oder der uns gefallenden Vorſtellung ab, von der wir modificirt ſind, und iſt alſo ſelbſt kein Werk unſerer Eigenmacht.
Spricht
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XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
Bey unſern einzelnen Handlungen den Grad der
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das geht ohne Zweifel uͤber alle unſere Kraͤfte. Nur
der Allwiſſende beurtheilet unſere individuellen Kraft-
aͤußerungen nach einer voͤllig gerechten Wage, die es
genau angiebt, was und wie viel unſerm Jch, uns als
Seele zukommt, und wie viel dem Einfluſſe aͤußerer
Umſtaͤnde beyzumeſſen ſey, von denen viele allzu ſehr
im Dunkeln liegen, als daß unſer Auge ſie entdecken
koͤnnnte. Aber dieß macht unſere deutlichen Selbſtge-
fuͤhle nicht unzuverlaͤßig, die uns doch die Unterſchiede,
ſo weit es uns in Beziehung auf unſere ſonſtigen Kennt-
niſſe um ſie zu thun ſeyn kann, deutlich genug vorhalten.
Wir fuͤhlen es oft, daß Empfindungen, Vorſtel-
lungen, Bewegungsgruͤnde uns beſtimmen und fort-
druͤcken, auf eine Art die der aͤhnlich iſt, auf welche
die Schale an der Wage, die im Gleichgewicht ſtehet
von dem Uebergewicht niedergedruͤckt wird; daß ſie uns
ziehen und zuweilen ſtoßen. Jn dieſen Faͤllen ſagen
wir, wenn wir eigentlich reden, nicht, daß wir uns ſelbſt
beſtimmen; wir werden vielmehr beſtimmt, hingeriſ-
ſen, und die erfolgende Aktion wird uns abgezwungen.
Es mag ſeyn, daß die Thaͤtigkeit, welche alsdenn
erfolget, eine Thaͤtigkeit unſers innern Princips ſey;
zuweilen ſcheinet ſie dieß nicht zu ſeyn; aber es wird
unſere innere Selbſtkraft doch von der hinzukommenden
Empfindung oder Vorſtellung modificirt, und nun erſt
durch dieſe neue Beſtimmung zu einem innerlich zurei-
chenden Grunde gemacht, wovon der gegenwaͤrtige
Trieb, das Beſtreben, oder die Aktion, ſo wie ſie erfolget,
abhangen. Daß wir gerade zu derjenigen Kraftaͤußerung
beſtimmet ſind, welche unter dieſen Umſtaͤnden entſpringt,
haͤngt alsdenn von dem Einfluſſe der Empfindung oder der
uns gefallenden Vorſtellung ab, von der wir modificirt
ſind, und iſt alſo ſelbſt kein Werk unſerer Eigenmacht.
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/90>, abgerufen am 21.11.2024.
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