Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XII. Versuch. Ueber die Selbstthätigkeit
entschließen, und wo das Warum so, und nicht anders,
allein von der Gegenwart des Objekts abhänget, worauf
sich die Kraft anwendet, wären völlig erklärt; wie müßte
es sich denn in den übrigen verhalten, wo das vorzügli-
che Gefallen
es ist, wonach wir uns bestimmen, oder mit
andern Worten, wo wir nach dem Gesetz des Besten
wollen und handeln? Hier scheint der eigentliche Sitz der
Schwierigkeiten zu seyn. Handeln wir da selbst, be-
stimmen wir uns selbst, wenn wir das wählen, was
uns gefällt? So überredet es uns unser Gefühl. Oder
werden wir passive bestimmt zur Handlung, und ist
die Handlung selbst zum Theil wenigstens eine Leiden-
heit? So scheinet es, müsse es seyn, wenn wir darauf
sehen, daß das Gefallen in der Sache uns beweget;
und daß dieß Gefallen ein Empfindniß ist, wodurch das
Wollen hervorgebracht wird.

3.

Es sind doch einige Vorbereitungen nöthig, ehe
man geradezu diese Schwierigkeiten angreifen kann.
Meine Absicht ist nicht so ausgedehnt, die ganze Be-
schaffenheit unserer Selbstthätigkeit zu untersuchen.
Dieß ist eine Tiefe, die uns desto unerreichbarer vor-
kommt, je weiter man in sie hinabsteiget. Hier we-
nigstens verlange ich nicht mehr, als nur bis zu dem
Grunde zu gelangen, woraus dasjenige entspringet,
was wir in unsern Gefühlen vor uns haben, und helle
genug unterscheiden. Was ist in uns vorhanden, was
geschieht, wenn wir mit Besinnung willkührlich wol-
len, uns bestimmen, und handeln? Was ist alsdenn
da, wenn wir gereizet, getrieben, gedruckt, genöthi-
get werden? Warum das Eine unter diesen, das an-
dere unter andern Umständen? Aber auch zu diesen
Fragen ist es nöthig, sich nach einigen Erfahrungssätzen
über die Selbstthätigkeit der Seele umzusehen. Sich

bestim-

XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
entſchließen, und wo das Warum ſo, und nicht anders,
allein von der Gegenwart des Objekts abhaͤnget, worauf
ſich die Kraft anwendet, waͤren voͤllig erklaͤrt; wie muͤßte
es ſich denn in den uͤbrigen verhalten, wo das vorzuͤgli-
che Gefallen
es iſt, wonach wir uns beſtimmen, oder mit
andern Worten, wo wir nach dem Geſetz des Beſten
wollen und handeln? Hier ſcheint der eigentliche Sitz der
Schwierigkeiten zu ſeyn. Handeln wir da ſelbſt, be-
ſtimmen wir uns ſelbſt, wenn wir das waͤhlen, was
uns gefaͤllt? So uͤberredet es uns unſer Gefuͤhl. Oder
werden wir paſſive beſtimmt zur Handlung, und iſt
die Handlung ſelbſt zum Theil wenigſtens eine Leiden-
heit? So ſcheinet es, muͤſſe es ſeyn, wenn wir darauf
ſehen, daß das Gefallen in der Sache uns beweget;
und daß dieß Gefallen ein Empfindniß iſt, wodurch das
Wollen hervorgebracht wird.

3.

Es ſind doch einige Vorbereitungen noͤthig, ehe
man geradezu dieſe Schwierigkeiten angreifen kann.
Meine Abſicht iſt nicht ſo ausgedehnt, die ganze Be-
ſchaffenheit unſerer Selbſtthaͤtigkeit zu unterſuchen.
Dieß iſt eine Tiefe, die uns deſto unerreichbarer vor-
kommt, je weiter man in ſie hinabſteiget. Hier we-
nigſtens verlange ich nicht mehr, als nur bis zu dem
Grunde zu gelangen, woraus dasjenige entſpringet,
was wir in unſern Gefuͤhlen vor uns haben, und helle
genug unterſcheiden. Was iſt in uns vorhanden, was
geſchieht, wenn wir mit Beſinnung willkuͤhrlich wol-
len, uns beſtimmen, und handeln? Was iſt alsdenn
da, wenn wir gereizet, getrieben, gedruckt, genoͤthi-
get werden? Warum das Eine unter dieſen, das an-
dere unter andern Umſtaͤnden? Aber auch zu dieſen
Fragen iſt es noͤthig, ſich nach einigen Erfahrungsſaͤtzen
uͤber die Selbſtthaͤtigkeit der Seele umzuſehen. Sich

beſtim-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0096" n="66"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XII.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber die Selb&#x017F;ttha&#x0364;tigkeit</hi></fw><lb/>
ent&#x017F;chließen, und wo das Warum &#x017F;o, und nicht anders,<lb/>
allein von der Gegenwart des Objekts abha&#x0364;nget, worauf<lb/>
&#x017F;ich die Kraft anwendet, wa&#x0364;ren vo&#x0364;llig erkla&#x0364;rt; wie mu&#x0364;ßte<lb/>
es &#x017F;ich denn in den u&#x0364;brigen verhalten, wo das <hi rendition="#fr">vorzu&#x0364;gli-<lb/>
che Gefallen</hi> es i&#x017F;t, wonach wir uns be&#x017F;timmen, oder mit<lb/>
andern Worten, wo wir nach dem <hi rendition="#fr">Ge&#x017F;etz des Be&#x017F;ten</hi><lb/>
wollen und handeln? Hier &#x017F;cheint der eigentliche Sitz der<lb/>
Schwierigkeiten zu &#x017F;eyn. Handeln wir da <hi rendition="#fr">&#x017F;elb&#x017F;t,</hi> be-<lb/>
&#x017F;timmen wir uns &#x017F;elb&#x017F;t, wenn wir das wa&#x0364;hlen, was<lb/>
uns gefa&#x0364;llt? So u&#x0364;berredet es uns un&#x017F;er Gefu&#x0364;hl. Oder<lb/><hi rendition="#fr">werden</hi> wir pa&#x017F;&#x017F;ive be&#x017F;timmt zur Handlung, und i&#x017F;t<lb/>
die Handlung &#x017F;elb&#x017F;t zum Theil wenig&#x017F;tens eine Leiden-<lb/>
heit? So &#x017F;cheinet es, mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e es &#x017F;eyn, wenn wir darauf<lb/>
&#x017F;ehen, daß das Gefallen in der Sache uns beweget;<lb/>
und daß dieß Gefallen ein Empfindniß i&#x017F;t, wodurch das<lb/>
Wollen hervorgebracht wird.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>3.</head><lb/>
            <p>Es &#x017F;ind doch einige Vorbereitungen no&#x0364;thig, ehe<lb/>
man geradezu die&#x017F;e Schwierigkeiten angreifen kann.<lb/>
Meine Ab&#x017F;icht i&#x017F;t nicht &#x017F;o ausgedehnt, die ganze Be-<lb/>
&#x017F;chaffenheit un&#x017F;erer Selb&#x017F;ttha&#x0364;tigkeit zu unter&#x017F;uchen.<lb/>
Dieß i&#x017F;t eine Tiefe, die uns de&#x017F;to unerreichbarer vor-<lb/>
kommt, je weiter man in &#x017F;ie hinab&#x017F;teiget. Hier we-<lb/>
nig&#x017F;tens verlange ich nicht mehr, als nur bis zu dem<lb/>
Grunde zu gelangen, woraus dasjenige ent&#x017F;pringet,<lb/>
was wir in un&#x017F;ern Gefu&#x0364;hlen vor uns haben, und helle<lb/>
genug unter&#x017F;cheiden. Was i&#x017F;t in uns vorhanden, was<lb/>
ge&#x017F;chieht, wenn wir mit Be&#x017F;innung <hi rendition="#fr">willku&#x0364;hrlich</hi> wol-<lb/>
len, uns be&#x017F;timmen, und handeln? Was i&#x017F;t alsdenn<lb/>
da, wenn wir gereizet, getrieben, gedruckt, geno&#x0364;thi-<lb/>
get <hi rendition="#fr">werden?</hi> Warum das Eine unter die&#x017F;en, das an-<lb/>
dere unter andern Um&#x017F;ta&#x0364;nden? Aber auch zu die&#x017F;en<lb/>
Fragen i&#x017F;t es no&#x0364;thig, &#x017F;ich nach einigen Erfahrungs&#x017F;a&#x0364;tzen<lb/>
u&#x0364;ber die Selb&#x017F;ttha&#x0364;tigkeit der Seele umzu&#x017F;ehen. <hi rendition="#fr">Sich</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">be&#x017F;tim-</hi></fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[66/0096] XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit entſchließen, und wo das Warum ſo, und nicht anders, allein von der Gegenwart des Objekts abhaͤnget, worauf ſich die Kraft anwendet, waͤren voͤllig erklaͤrt; wie muͤßte es ſich denn in den uͤbrigen verhalten, wo das vorzuͤgli- che Gefallen es iſt, wonach wir uns beſtimmen, oder mit andern Worten, wo wir nach dem Geſetz des Beſten wollen und handeln? Hier ſcheint der eigentliche Sitz der Schwierigkeiten zu ſeyn. Handeln wir da ſelbſt, be- ſtimmen wir uns ſelbſt, wenn wir das waͤhlen, was uns gefaͤllt? So uͤberredet es uns unſer Gefuͤhl. Oder werden wir paſſive beſtimmt zur Handlung, und iſt die Handlung ſelbſt zum Theil wenigſtens eine Leiden- heit? So ſcheinet es, muͤſſe es ſeyn, wenn wir darauf ſehen, daß das Gefallen in der Sache uns beweget; und daß dieß Gefallen ein Empfindniß iſt, wodurch das Wollen hervorgebracht wird. 3. Es ſind doch einige Vorbereitungen noͤthig, ehe man geradezu dieſe Schwierigkeiten angreifen kann. Meine Abſicht iſt nicht ſo ausgedehnt, die ganze Be- ſchaffenheit unſerer Selbſtthaͤtigkeit zu unterſuchen. Dieß iſt eine Tiefe, die uns deſto unerreichbarer vor- kommt, je weiter man in ſie hinabſteiget. Hier we- nigſtens verlange ich nicht mehr, als nur bis zu dem Grunde zu gelangen, woraus dasjenige entſpringet, was wir in unſern Gefuͤhlen vor uns haben, und helle genug unterſcheiden. Was iſt in uns vorhanden, was geſchieht, wenn wir mit Beſinnung willkuͤhrlich wol- len, uns beſtimmen, und handeln? Was iſt alsdenn da, wenn wir gereizet, getrieben, gedruckt, genoͤthi- get werden? Warum das Eine unter dieſen, das an- dere unter andern Umſtaͤnden? Aber auch zu dieſen Fragen iſt es noͤthig, ſich nach einigen Erfahrungsſaͤtzen uͤber die Selbſtthaͤtigkeit der Seele umzuſehen. Sich beſtim-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/96
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/96>, abgerufen am 24.11.2024.