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Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.

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vor Pilatus Richterstuhl.
Jesu gehört haben: genug er sah ihn izt, viel-
leicht zum erstenmal, gewis zum erstenmal in
solcher Näh und in einem solchen Aufzuge.
War auch Pilatus kein geübter Menschenkenner,
(und seine gelehrte Erziehung, seine höfische Lebens-
art, sein unsichrer Standpunkt, den er in Jeru-
salem behaupteu mußte, hatten doch ihm, vor
vielen andern, dazu Bildung gegeben), verstand
er sich nicht sehr auf die Sprache der Natur, auf
die Handschrift Gottes in den Gesichtszügen der
Menschen, hatte, bei schwelgerischer, wollüstiger
römischer Lebensart, sein Auge vielleicht zu solchen
Bemerkungen, zum wenigsten von der feinern
Art, nicht Kraft, sein Blik nicht Stätigkeit
genug: so mußte doch die vollkommne Menschen-
gestalt Jesu, gleich bei ihrer ersten ungefehren
Wahrnehmung, einen tiefen, starken Eindruk
auf ihn machen, eine Erschütterung in seinem
Innern bewürken. Und diesem Eindruk ist es
wohl eben so sehr zuzuschreiben, wie dem Ein-
druk, den die trozzige Antwort der Juden auf
ihn machen mußte, daß er ihnen, auch ihren
vornehmen Wortführern, gleich in so herrischem
Tone, und, ich denke, zu gleicher Zeit, Jesu
mit einem so huldigenden Blikke, begegnete.

So sahn sich denn die Juden gar bald in ihre
Schranken verwiesen, und das kleinlaute Geständ-
nis ihrer Unterwürfigkeit scheint den Römer
wieder besänftigt zu haben, wie er denn freilich
auch der Klage, zu der sie nun wieder einlenkten,
als Richter Gehör geben mußte. Mit den,
gewis schändlichsten, Gesichtsverzerrungen und
dem, aufs wildeste durch einander fahrenden,

Ge-

vor Pilatus Richterſtuhl.
Jeſu gehört haben: genug er ſah ihn izt, viel-
leicht zum erſtenmal, gewis zum erſtenmal in
ſolcher Näh und in einem ſolchen Aufzuge.
War auch Pilatus kein geübter Menſchenkenner,
(und ſeine gelehrte Erziehung, ſeine höfiſche Lebens-
art, ſein unſichrer Standpunkt, den er in Jeru-
ſalem behaupteu mußte, hatten doch ihm, vor
vielen andern, dazu Bildung gegeben), verſtand
er ſich nicht ſehr auf die Sprache der Natur, auf
die Handſchrift Gottes in den Geſichtszügen der
Menſchen, hatte, bei ſchwelgeriſcher, wollüſtiger
römiſcher Lebensart, ſein Auge vielleicht zu ſolchen
Bemerkungen, zum wenigſten von der feinern
Art, nicht Kraft, ſein Blik nicht Stätigkeit
genug: ſo mußte doch die vollkommne Menſchen-
geſtalt Jeſu, gleich bei ihrer erſten ungefehren
Wahrnehmung, einen tiefen, ſtarken Eindruk
auf ihn machen, eine Erſchütterung in ſeinem
Innern bewürken. Und dieſem Eindruk iſt es
wohl eben ſo ſehr zuzuſchreiben, wie dem Ein-
druk, den die trozzige Antwort der Juden auf
ihn machen mußte, daß er ihnen, auch ihren
vornehmen Wortführern, gleich in ſo herriſchem
Tone, und, ich denke, zu gleicher Zeit, Jeſu
mit einem ſo huldigenden Blikke, begegnete.

So ſahn ſich denn die Juden gar bald in ihre
Schranken verwieſen, und das kleinlaute Geſtänd-
nis ihrer Unterwürfigkeit ſcheint den Römer
wieder beſänftigt zu haben, wie er denn freilich
auch der Klage, zu der ſie nun wieder einlenkten,
als Richter Gehör geben mußte. Mit den,
gewis ſchändlichſten, Geſichtsverzerrungen und
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[91/0105] vor Pilatus Richterſtuhl. Jeſu gehört haben: genug er ſah ihn izt, viel- leicht zum erſtenmal, gewis zum erſtenmal in ſolcher Näh und in einem ſolchen Aufzuge. War auch Pilatus kein geübter Menſchenkenner, (und ſeine gelehrte Erziehung, ſeine höfiſche Lebens- art, ſein unſichrer Standpunkt, den er in Jeru- ſalem behaupteu mußte, hatten doch ihm, vor vielen andern, dazu Bildung gegeben), verſtand er ſich nicht ſehr auf die Sprache der Natur, auf die Handſchrift Gottes in den Geſichtszügen der Menſchen, hatte, bei ſchwelgeriſcher, wollüſtiger römiſcher Lebensart, ſein Auge vielleicht zu ſolchen Bemerkungen, zum wenigſten von der feinern Art, nicht Kraft, ſein Blik nicht Stätigkeit genug: ſo mußte doch die vollkommne Menſchen- geſtalt Jeſu, gleich bei ihrer erſten ungefehren Wahrnehmung, einen tiefen, ſtarken Eindruk auf ihn machen, eine Erſchütterung in ſeinem Innern bewürken. Und dieſem Eindruk iſt es wohl eben ſo ſehr zuzuſchreiben, wie dem Ein- druk, den die trozzige Antwort der Juden auf ihn machen mußte, daß er ihnen, auch ihren vornehmen Wortführern, gleich in ſo herriſchem Tone, und, ich denke, zu gleicher Zeit, Jeſu mit einem ſo huldigenden Blikke, begegnete. So ſahn ſich denn die Juden gar bald in ihre Schranken verwieſen, und das kleinlaute Geſtänd- nis ihrer Unterwürfigkeit ſcheint den Römer wieder beſänftigt zu haben, wie er denn freilich auch der Klage, zu der ſie nun wieder einlenkten, als Richter Gehör geben mußte. Mit den, gewis ſchändlichſten, Geſichtsverzerrungen und dem, aufs wildeſte durch einander fahrenden, Ge-

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Zitationshilfe: Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/105>, abgerufen am 22.11.2024.