Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.Unser Herr, zes Ansehn war nun nicht mehr hinreichend, seinVorhaben durchzusezzen, er konnt es auch nicht wohl aufbieten. So sprach er denn -- urtheile, Leser, mit welchen Empfindungen! -- über Jesum das völlige Todesurtheil. Jesus mußte sich sein Kreuz selbst her- holen, und ein gewisser Simon ward genöthigt, es ihm nachzutragen. Auf dem Wege zum Gerichtsplazze be- gleitete ihn eine Menge, still um ihn traurender, Freunde, laut um ihn weinender, Frauen. Da redete Er, der so lang geschwiegen hätte, und o wie redete Er! Zwei grobe Verbrecher gingen mit ihm dieses Wegs. Wie er auf dem Gerichtsplazze angelangt war, reichte man ihm, nach Gewohnheit, einen berauschenden Trunk, und Er, der den Leidenskelch ganz trinken wollte, verschmahte ienen. Nun ward er ans Kreuz (zwei queer über einander Ueber dem Kreuze Jesu war eine Inschrift ange- "Jesus
Unſer Herr, zes Anſehn war nun nicht mehr hinreichend, ſeinVorhaben durchzuſezzen, er konnt es auch nicht wohl aufbieten. So ſprach er denn — urtheile, Leſer, mit welchen Empfindungen! — über Jeſum das völlige Todesurtheil. Jeſus mußte ſich ſein Kreuz ſelbſt her- holen, und ein gewiſſer Simon ward genöthigt, es ihm nachzutragen. Auf dem Wege zum Gerichtsplazze be- gleitete ihn eine Menge, ſtill um ihn traurender, Freunde, laut um ihn weinender, Frauen. Da redete Er, der ſo lang geſchwiegen hätte, und o wie redete Er! Zwei grobe Verbrecher gingen mit ihm dieſes Wegs. Wie er auf dem Gerichtsplazze angelangt war, reichte man ihm, nach Gewohnheit, einen berauſchenden Trunk, und Er, der den Leidenskelch ganz trinken wollte, verſchmahte ienen. Nun ward er ans Kreuz (zwei queer über einander Ueber dem Kreuze Jeſu war eine Inſchrift ange- “Jeſus
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Unſer Herr,
zes Anſehn war nun nicht mehr hinreichend, ſein
Vorhaben durchzuſezzen, er konnt es auch nicht wohl
aufbieten. So ſprach er denn — urtheile, Leſer,
mit welchen Empfindungen! — über Jeſum das völlige
Todesurtheil. Jeſus mußte ſich ſein Kreuz ſelbſt her-
holen, und ein gewiſſer Simon ward genöthigt, es ihm
nachzutragen. Auf dem Wege zum Gerichtsplazze be-
gleitete ihn eine Menge, ſtill um ihn traurender, Freunde,
laut um ihn weinender, Frauen. Da redete Er, der
ſo lang geſchwiegen hätte, und o wie redete Er! Zwei
grobe Verbrecher gingen mit ihm dieſes Wegs. Wie er
auf dem Gerichtsplazze angelangt war, reichte man ihm,
nach Gewohnheit, einen berauſchenden Trunk, und Er, der
den Leidenskelch ganz trinken wollte, verſchmahte ienen.
Nun ward er ans Kreuz (zwei queer über einander
geſchlagne Baumhölzer) geſchlagen, an dem er ſich lang-
ſam zu Tode bluten mußte. Welch ein ſchreklicher Tod,
und auch, nach den Begriffen der Juden und der Ge-
wohnheit der Römer, der allerſchimpflichſte! Und ſo wie
er in dieſen Tod ging, ſo wie er ſeine Kleider auszog,
und ſo wie nun ſein heiliger Leib von Henkers Händen
angegriffen und angenagelt wurde, in Gegenwart einer
Menge, von allen Seiten herbeilaufender, theils neu-
gieriger, theils ſchadenfroher, theils mitleidiger, Zu-
ſchauer, von denen er gewis mehrere geheilt, und vielen
gepredigt hatte, und im Beiſein der, laut triumphiren-
den, Oberprieſter, da rief Er in das Getöſe um den Ge-
richtsplaz her, und auf die, ſich vordrängenden, Prieſter
und Geſezausleger herab: Vater, vergieb ihnen, denn
ſie wiſſen nicht, was ſie thun! Die abgelegten Klei-
der Jeſu wurden nun den römiſchen Soldaten, welche
bei ſeinem Kreuz die Wache hatten, zu Theil, und um
das Oberkleid, was noch übrig blieb und gewebt war,
würfelten ſie.
Ueber dem Kreuze Jeſu war eine Inſchrift ange-
bracht, die die Urſach ſeines Verbrechertodes angeben
ſollte. Pilatus hatte ſie verfertigt, und, damit ſie
Jedermann in die Augen fiele, ſie in den drei, damals
im iüdiſchen Lande gangbaren, Sprachen abfaſſen laſſen.
“Jeſus
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