Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.Unser Herr, gegeisselt und gekreuzigt. eine Fürbitte für sich verwandelte. Diese, hier so ganzunerwartete, Schuz und Lobrede Jesu öfnete ihm den Mund zu der schönsten Verheissung, die er für sich, und auch für diesen, in so herzlicher Neue zu ihm sich wen- denden, Missethäter aussprach. Mit eben so liebevollem Ausdruk redete er nun auch seine, bei seinem Kreuze stehende, Mutter und seinen Lieblingsiünger an. So wie sein Tod sich näherte: so ward die Luft immer finstrer. In diese Dunkelheit rief er die Klage aus Ps. 22, 1. hinein, das machte bei den Umstehenden ganz verschiedne Empfindungen rege: allein in seiner scheiden- denden Sele ward es nun wieder Licht. Durst war das lezte Gefühl seiner leidenden Mensch- Du neigst dein Haupt, es ist vollbracht; du stirbst, die Erd erschüttert! Die Arbeit hab ich dir gemacht, Herr, meine Seele zittert! Was ist der Mensch, den du befreit? O wär ich doch ganz Dankbarkeit, Herr, laß mich Gnade finden, und deine Liebe dringe mich, daß ich dich wieder lieb', und dich nie kreuzige mit Sünden! Unſer Herr, gegeiſſelt und gekreuzigt. eine Fürbitte für ſich verwandelte. Dieſe, hier ſo ganzunerwartete, Schuz und Lobrede Jeſu öfnete ihm den Mund zu der ſchönſten Verheiſſung, die er für ſich, und auch für dieſen, in ſo herzlicher Neue zu ihm ſich wen- denden, Miſſethäter ausſprach. Mit eben ſo liebevollem Ausdruk redete er nun auch ſeine, bei ſeinem Kreuze ſtehende, Mutter und ſeinen Lieblingsiünger an. So wie ſein Tod ſich näherte: ſo ward die Luft immer finſtrer. In dieſe Dunkelheit rief er die Klage aus Pſ. 22, 1. hinein, das machte bei den Umſtehenden ganz verſchiedne Empfindungen rege: allein in ſeiner ſcheiden- denden Sele ward es nun wieder Licht. Durſt war das lezte Gefühl ſeiner leidenden Menſch- Du neigſt dein Haupt, es iſt vollbracht; du ſtirbſt, die Erd erſchüttert! Die Arbeit hab ich dir gemacht, Herr, meine Seele zittert! Was iſt der Menſch, den du befreit? O wär ich doch ganz Dankbarkeit, Herr, laß mich Gnade finden, und deine Liebe dringe mich, daß ich dich wieder lieb’, und dich nie kreuzige mit Sünden! <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0126" n="112"/><fw place="top" type="header">Unſer Herr, gegeiſſelt und gekreuzigt.</fw><lb/> eine Fürbitte für ſich verwandelte. Dieſe, hier ſo ganz<lb/> unerwartete, Schuz und Lobrede Jeſu öfnete ihm den<lb/> Mund zu der ſchönſten Verheiſſung, die er für ſich, und<lb/> auch für dieſen, in ſo herzlicher Neue zu ihm ſich wen-<lb/> denden, Miſſethäter ausſprach. Mit eben ſo liebevollem<lb/> Ausdruk redete er nun auch ſeine, bei ſeinem Kreuze<lb/> ſtehende, Mutter und ſeinen Lieblingsiünger an. So<lb/> wie ſein Tod ſich näherte: ſo ward die Luft immer<lb/> finſtrer. In dieſe Dunkelheit rief er die Klage aus Pſ.<lb/> 22, 1. hinein, das machte bei den Umſtehenden ganz<lb/> verſchiedne Empfindungen rege: allein in ſeiner ſcheiden-<lb/> denden Sele ward es nun wieder Licht.</p><lb/> <p><hi rendition="#fr">Durſt</hi> war das lezte Gefühl ſeiner leidenden Menſch-<lb/> heit. Er zeigte es an, ohne darüber zu <hi rendition="#fr">klagen,</hi> ohne<lb/> um Stillung ſeines Durſtes zu <hi rendition="#fr">bitten.</hi> Doch ver-<lb/> ſchmähte er die Erquikkung nicht, welche man ihm izt,<lb/> bei ſeinem ſichtbaren Todeskampfe, reichte, wie elend ſie<lb/> auch war. <hi rendition="#fr">Es iſt vollbracht!</hi> — ſo ſagte er nun<lb/> leiſe, legte dann ſein Haupt zur Seite, ruhte ſo eine<lb/> Zeitlang ſchweigend, wie ſchon im Todesſchlummer, holte<lb/> noch einmal ſtark Athem, rief mit lauter Stimme: <hi rendition="#fr">Va-<lb/> ter, in deine Hände leg ich meinen Geiſt nieder,</hi><lb/> und war todt. Da bebte die Erde; Gräber öfneten ſich,<lb/> und Leichen erſchienen; im Tempel zerriß der Vorhang<lb/> von einander, von oben bis nach unten, und nun erbebte<lb/> auch das Volk, und ſelbſt der Hauptmann der römiſchen<lb/> Wache ward beſtürzt und wehmüthig. Die Anver-<lb/> wandten und Freundinnen Jeſu, die in einiger Entfer-<lb/> nung ſeiner Kreuzigung zugeſehn hatten, mit welchen<lb/> Empfindungen mögen die zurükgekehrt ſein in ihre, nun<lb/> für ſie ſchreklich öden und ſchwarzen, Hütten! —</p><lb/> <lg type="poem"> <l><hi rendition="#in">D</hi>u neigſt dein Haupt, es iſt vollbracht;</l><lb/> <l>du ſtirbſt, die Erd erſchüttert!</l><lb/> <l>Die Arbeit hab ich dir gemacht,</l><lb/> <l>Herr, meine Seele zittert!</l><lb/> <l>Was iſt der Menſch, den du befreit?</l><lb/> <l>O wär ich doch ganz Dankbarkeit,</l><lb/> <l>Herr, laß mich Gnade finden,</l><lb/> <l>und deine Liebe dringe mich,</l><lb/> <l>daß ich dich wieder lieb’, und dich</l><lb/> <l>nie kreuzige mit Sünden!</l> </lg> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </body> </text> </TEI> [112/0126]
Unſer Herr, gegeiſſelt und gekreuzigt.
eine Fürbitte für ſich verwandelte. Dieſe, hier ſo ganz
unerwartete, Schuz und Lobrede Jeſu öfnete ihm den
Mund zu der ſchönſten Verheiſſung, die er für ſich, und
auch für dieſen, in ſo herzlicher Neue zu ihm ſich wen-
denden, Miſſethäter ausſprach. Mit eben ſo liebevollem
Ausdruk redete er nun auch ſeine, bei ſeinem Kreuze
ſtehende, Mutter und ſeinen Lieblingsiünger an. So
wie ſein Tod ſich näherte: ſo ward die Luft immer
finſtrer. In dieſe Dunkelheit rief er die Klage aus Pſ.
22, 1. hinein, das machte bei den Umſtehenden ganz
verſchiedne Empfindungen rege: allein in ſeiner ſcheiden-
denden Sele ward es nun wieder Licht.
Durſt war das lezte Gefühl ſeiner leidenden Menſch-
heit. Er zeigte es an, ohne darüber zu klagen, ohne
um Stillung ſeines Durſtes zu bitten. Doch ver-
ſchmähte er die Erquikkung nicht, welche man ihm izt,
bei ſeinem ſichtbaren Todeskampfe, reichte, wie elend ſie
auch war. Es iſt vollbracht! — ſo ſagte er nun
leiſe, legte dann ſein Haupt zur Seite, ruhte ſo eine
Zeitlang ſchweigend, wie ſchon im Todesſchlummer, holte
noch einmal ſtark Athem, rief mit lauter Stimme: Va-
ter, in deine Hände leg ich meinen Geiſt nieder,
und war todt. Da bebte die Erde; Gräber öfneten ſich,
und Leichen erſchienen; im Tempel zerriß der Vorhang
von einander, von oben bis nach unten, und nun erbebte
auch das Volk, und ſelbſt der Hauptmann der römiſchen
Wache ward beſtürzt und wehmüthig. Die Anver-
wandten und Freundinnen Jeſu, die in einiger Entfer-
nung ſeiner Kreuzigung zugeſehn hatten, mit welchen
Empfindungen mögen die zurükgekehrt ſein in ihre, nun
für ſie ſchreklich öden und ſchwarzen, Hütten! —
Du neigſt dein Haupt, es iſt vollbracht;
du ſtirbſt, die Erd erſchüttert!
Die Arbeit hab ich dir gemacht,
Herr, meine Seele zittert!
Was iſt der Menſch, den du befreit?
O wär ich doch ganz Dankbarkeit,
Herr, laß mich Gnade finden,
und deine Liebe dringe mich,
daß ich dich wieder lieb’, und dich
nie kreuzige mit Sünden!
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