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Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.

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am Morgen seines Auferstehungstags.
was hievon in den Erzählungen der göttlichen
Geschichtschreiber menschlicher Weise vorkommt,
und so dürfen wir denn, nach der, uns hier er-
theilten, göttlichen Offenbarung, behaupten, dies
andre Menschenleben Jesu sei wohl in mehrern
Hinsichten von seinem erstern sehr verschieden ge-
wesen.

Bei aller der Göttlichkeit, die in diesem, fast in allen
Handlungen desselben, sichtbar wird, ist es doch mensch-
licher, natürlicher, als ienes. Es fängt mit der Ge-
burt
an, freilich mit einer übernatürlichen Geburt,
und es schließt sich mit dem Tode, freilich mit einem
unnatürlichen Tode: allein dies andre Menschenleben
nimmt gar keinen bestimmten Anfang und kein be-
stimmtes
Ende, es entsteht, und wir wissen nicht
wie? aus dem Tode, es verschwebt, und wir wissen
nicht wie? in die Luft. Ein gewisses Schweben,
wie es in dem Leben Jesu vor seinem Tode nicht merk-
lich wird, auch da nicht, wo er von den Gesezzen der
körperlichen Natur für sich selbst eine Ausname machte,
die wir nicht zu erklären wissen, ist in dem Leben Jesu
nach seinem Tode durchaus auffallend, und wir können
uns das noch weniger erklären. Vor seinem Tode
wohnte Jesus recht eigentlich auf der Erde, nach seinem
Tode war er nur ein vorübergehender Gast, vor seinem
Tode war alles an ihm in gleichmäßiger Bewegung,
nach seinem Tode scheint er auch nicht einmal der Ruhe
bedurft zu haben. Er ist nicht mehr so körperlich ge-
genwärtig,
sondern er erscheint und verschwindet,
er erscheint bald mehrern zugleich, bald einem allein,
er ist bald hie und da, er kommt und geht bei ver-
schlossenen
Thüren, er kommt nicht, er ist auf einmal
da. Und wenn er nun noch, wie sonst, das Brod
bricht, und Speise zu sich nimmt: so scheint er doch
das nicht mehr aus körperlichem Vedürfnis zu thun,
was er sonst empfand, sondern um der geistigen Be-
dürfnisse seiner Jünger willen. Sogar die Nägel-
mahle in Händen und Füßen, die sein Leichnam von der

Kreu
J 4

am Morgen ſeines Auferſtehungstags.
was hievon in den Erzählungen der göttlichen
Geſchichtſchreiber menſchlicher Weiſe vorkommt,
und ſo dürfen wir denn, nach der, uns hier er-
theilten, göttlichen Offenbarung, behaupten, dies
andre Menſchenleben Jeſu ſei wohl in mehrern
Hinſichten von ſeinem erſtern ſehr verſchieden ge-
weſen.

Bei aller der Göttlichkeit, die in dieſem, faſt in allen
Handlungen deſſelben, ſichtbar wird, iſt es doch menſch-
licher, natürlicher, als ienes. Es fängt mit der Ge-
burt
an, freilich mit einer übernatürlichen Geburt,
und es ſchließt ſich mit dem Tode, freilich mit einem
unnatürlichen Tode: allein dies andre Menſchenleben
nimmt gar keinen beſtimmten Anfang und kein be-
ſtimmtes
Ende, es entſteht, und wir wiſſen nicht
wie? aus dem Tode, es verſchwebt, und wir wiſſen
nicht wie? in die Luft. Ein gewiſſes Schweben,
wie es in dem Leben Jeſu vor ſeinem Tode nicht merk-
lich wird, auch da nicht, wo er von den Geſezzen der
körperlichen Natur für ſich ſelbſt eine Ausname machte,
die wir nicht zu erklären wiſſen, iſt in dem Leben Jeſu
nach ſeinem Tode durchaus auffallend, und wir können
uns das noch weniger erklären. Vor ſeinem Tode
wohnte Jeſus recht eigentlich auf der Erde, nach ſeinem
Tode war er nur ein vorübergehender Gaſt, vor ſeinem
Tode war alles an ihm in gleichmäßiger Bewegung,
nach ſeinem Tode ſcheint er auch nicht einmal der Ruhe
bedurft zu haben. Er iſt nicht mehr ſo körperlich ge-
genwärtig,
ſondern er erſcheint und verſchwindet,
er erſcheint bald mehrern zugleich, bald einem allein,
er iſt bald hie und da, er kommt und geht bei ver-
ſchloſſenen
Thüren, er kommt nicht, er iſt auf einmal
da. Und wenn er nun noch, wie ſonſt, das Brod
bricht, und Speiſe zu ſich nimmt: ſo ſcheint er doch
das nicht mehr aus körperlichem Vedürfnis zu thun,
was er ſonſt empfand, ſondern um der geiſtigen Be-
dürfniſſe ſeiner Jünger willen. Sogar die Nägel-
mahle in Händen und Füßen, die ſein Leichnam von der

Kreu
J 4
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[135/0149] am Morgen ſeines Auferſtehungstags. was hievon in den Erzählungen der göttlichen Geſchichtſchreiber menſchlicher Weiſe vorkommt, und ſo dürfen wir denn, nach der, uns hier er- theilten, göttlichen Offenbarung, behaupten, dies andre Menſchenleben Jeſu ſei wohl in mehrern Hinſichten von ſeinem erſtern ſehr verſchieden ge- weſen. Bei aller der Göttlichkeit, die in dieſem, faſt in allen Handlungen deſſelben, ſichtbar wird, iſt es doch menſch- licher, natürlicher, als ienes. Es fängt mit der Ge- burt an, freilich mit einer übernatürlichen Geburt, und es ſchließt ſich mit dem Tode, freilich mit einem unnatürlichen Tode: allein dies andre Menſchenleben nimmt gar keinen beſtimmten Anfang und kein be- ſtimmtes Ende, es entſteht, und wir wiſſen nicht wie? aus dem Tode, es verſchwebt, und wir wiſſen nicht wie? in die Luft. Ein gewiſſes Schweben, wie es in dem Leben Jeſu vor ſeinem Tode nicht merk- lich wird, auch da nicht, wo er von den Geſezzen der körperlichen Natur für ſich ſelbſt eine Ausname machte, die wir nicht zu erklären wiſſen, iſt in dem Leben Jeſu nach ſeinem Tode durchaus auffallend, und wir können uns das noch weniger erklären. Vor ſeinem Tode wohnte Jeſus recht eigentlich auf der Erde, nach ſeinem Tode war er nur ein vorübergehender Gaſt, vor ſeinem Tode war alles an ihm in gleichmäßiger Bewegung, nach ſeinem Tode ſcheint er auch nicht einmal der Ruhe bedurft zu haben. Er iſt nicht mehr ſo körperlich ge- genwärtig, ſondern er erſcheint und verſchwindet, er erſcheint bald mehrern zugleich, bald einem allein, er iſt bald hie und da, er kommt und geht bei ver- ſchloſſenen Thüren, er kommt nicht, er iſt auf einmal da. Und wenn er nun noch, wie ſonſt, das Brod bricht, und Speiſe zu ſich nimmt: ſo ſcheint er doch das nicht mehr aus körperlichem Vedürfnis zu thun, was er ſonſt empfand, ſondern um der geiſtigen Be- dürfniſſe ſeiner Jünger willen. Sogar die Nägel- mahle in Händen und Füßen, die ſein Leichnam von der Kreu J 4

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Zitationshilfe: Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/149>, abgerufen am 16.11.2024.