Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.Unser Herr, vielleicht noch eine von ihren Freundinnen bei sichhatte, sah nun mit weirendem Aug ins Grab, und sah auf einmal zwei schöne Jünglinge in blendend weisser Gestalt, menschlich gekleidete Engel, gegen einander über im Grabe sizzen. Also das Aug, das hier, an dem Grabe des Herrn, die schönste Thräne verweinte, das izt sanft getrübte, liebevolle Aug der guten Maria, das sollte zuerst erhellt werden im göttlichen Lichtstrahl. Wie mächtig drang ihr wohl dieser durch Aug und Herz! Und so wars denn ihr unmöglich, auch nur einen Das that sie denn mit der herzlichsten Freude und Jesus
Unſer Herr, vielleicht noch eine von ihren Freundinnen bei ſichhatte, ſah nun mit weirendem Aug ins Grab, und ſah auf einmal zwei ſchöne Jünglinge in blendend weiſſer Geſtalt, menſchlich gekleidete Engel, gegen einander über im Grabe ſizzen. Alſo das Aug, das hier, an dem Grabe des Herrn, die ſchönſte Thräne verweinte, das izt ſanft getrübte, liebevolle Aug der guten Maria, das ſollte zuerſt erhellt werden im göttlichen Lichtſtrahl. Wie mächtig drang ihr wohl dieſer durch Aug und Herz! Und ſo wars denn ihr unmöglich, auch nur einen Das that ſie denn mit der herzlichſten Freude und Jeſus
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Unſer Herr,
vielleicht noch eine von ihren Freundinnen bei ſich
hatte, ſah nun mit weirendem Aug ins Grab, und ſah
auf einmal zwei ſchöne Jünglinge in blendend weiſſer
Geſtalt, menſchlich gekleidete Engel, gegen einander über
im Grabe ſizzen. Alſo das Aug, das hier, an dem Grabe
des Herrn, die ſchönſte Thräne verweinte, das izt ſanft
getrübte, liebevolle Aug der guten Maria, das ſollte zuerſt
erhellt werden im göttlichen Lichtſtrahl. Wie mächtig
drang ihr wohl dieſer durch Aug und Herz!
Und ſo wars denn ihr unmöglich, auch nur einen
von dieſen beiden Männern anzureden, auch wenn ſie
beide nur für Menſchen hielt. Einer von den Engeln
redete ſie alſo an. Wie natürlich und rührend war die
Antwort der Maria, wie ſichtbar wird in ihr die Beſtür-
zung, worin ſie izt war. In dieſer Beſtürzung hatte
ſie auf die nähere Belehrung des Engels nicht gehört,
und ſich ſchnell hinweggewandt. Da ſtand auf einmal
Jeſus vor ihr, aber ſie war izt auſſer Stande, ihn zu
kennen. Ohne auf ſeine Geſtalt und Miene, auf ſeine
Anrede im Geringſten Acht zu geben, voll von dem trau-
rigen Gedanken, den Leichnam Jeſu nicht finden, und
ihre Salbe nicht anbringen zu können, hielt ſie Jeſum
für Joſephs Gärtner, und bat ihn, ihr den todten Kör-
per, den ſie im Garten nirgends finden könne, nachzu-
weiſen. Lebendig ſtand er vor ihr, das ſah ſie izt, wie
ſie doch wohl auf ihn blikte, noch nicht, aber das em-
pfand ſie aufs völligſte, wie er mit dem, ihm gewöhn-
lichen und ganz eignen, Tone ihren Namen ausſprach.
Meiſter! rief ſie nun aus, und mit dieſem Worte lag
ſie auch zu ſeinen Füßen. Jeſus verbat ſich dieſe fuß-
fällige Verehrung noch für izt, und ſagte ihr, was ſie
ſeinen Brüdern und Jüngern wieder ſagen ſollte.
Das that ſie denn mit der herzlichſten Freude und
unter wiederholten Verſicherungen: Jeſus lebe, ſie habe
ihn geſehn, habe ihn geſprochen, und genau ſo habe er
mit ihr geredet. Aber ſie fand mit dem allen bei den
Jüngern keinen Eingang. Dieſe hielten des für eben
ſo unmöglich, als unbegreiflich es ihnen vorkam.
Erſt ſpäterhin, doch noch an eben dieſem Morgen, ſcheint
Jeſus
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