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Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794.

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Unser Herr,
und bange acht Tage für alle Jünger, und wohl
für den Thomas am meisten, der es sich am we-
nigsten merken ließ. Und so ward denn iene Fo-
derung, die er, bei aller scheinbaren Kälte, und
nach würklicher Ueberlegung, doch mit einem ge-
wissen Eifer, und in starker Gemüthsbewegung
ausgesprochen hatte, izt wohl allmählich Aus-
spruch seiner, sich nun selbst überlassenen, genauer
nachsinnenden, Vernunft, und so stand ihm dieser
Ausspruch wohl um so vester, ie länger und sorg-
fältiger er über die ganze Sache nachgedacht, ie
mehr er sie von allen Seiten erwogen, und ie we-
niger Auskunft er über sie erhalten hatte. Wo-
hin mußte dies Nachdenken den Mann nun füh-
ren, wenn er noch überzeugt werden konnte, und
so, daß er auch seinen lezten, daß er alle seine
Zweifel auf einmal aufgeben mußte?

Und so ward er überzeugt. Genau auf die
verlangte Art, sogar mit seinen eigenen Wor-
ten, überführte ihn Jesus. Am achten Tage
nämlich kam er, abermals bei verschlossenen Thü-
ren, zu seinen Jüngern, war auf einmal in ihrer
Mitte, und sprach: "Friede sei mit euch!"
Noch traute wohl Thomas seinen Augen kaum,
wie er auf einmal Ihn vor sich sah, in seiner, so
ausgezeichneten, Gestalt; noch glaubte er wohl
unrecht zu hören, wie der Schall aus Seinem
Munde ihm in die Sele fiel. Aber der Herr
ließ seinen Zweifeln nicht länger Raum. Er
wandte sich, -- und wie war da wohl seine Stel-
lung, wie seine ganze Geberde, sein Blik, sein

Ton!

Unſer Herr,
und bange acht Tage für alle Jünger, und wohl
für den Thomas am meiſten, der es ſich am we-
nigſten merken ließ. Und ſo ward denn iene Fo-
derung, die er, bei aller ſcheinbaren Kälte, und
nach würklicher Ueberlegung, doch mit einem ge-
wiſſen Eifer, und in ſtarker Gemüthsbewegung
ausgeſprochen hatte, izt wohl allmählich Aus-
ſpruch ſeiner, ſich nun ſelbſt überlaſſenen, genauer
nachſinnenden, Vernunft, und ſo ſtand ihm dieſer
Ausſpruch wohl um ſo veſter, ie länger und ſorg-
fältiger er über die ganze Sache nachgedacht, ie
mehr er ſie von allen Seiten erwogen, und ie we-
niger Auskunft er über ſie erhalten hatte. Wo-
hin mußte dies Nachdenken den Mann nun füh-
ren, wenn er noch überzeugt werden konnte, und
ſo, daß er auch ſeinen lezten, daß er alle ſeine
Zweifel auf einmal aufgeben mußte?

Und ſo ward er überzeugt. Genau auf die
verlangte Art, ſogar mit ſeinen eigenen Wor-
ten, überführte ihn Jeſus. Am achten Tage
nämlich kam er, abermals bei verſchloſſenen Thü-
ren, zu ſeinen Jüngern, war auf einmal in ihrer
Mitte, und ſprach: “Friede ſei mit euch!”
Noch traute wohl Thomas ſeinen Augen kaum,
wie er auf einmal Ihn vor ſich ſah, in ſeiner, ſo
ausgezeichneten, Geſtalt; noch glaubte er wohl
unrecht zu hören, wie der Schall aus Seinem
Munde ihm in die Sele fiel. Aber der Herr
ließ ſeinen Zweifeln nicht länger Raum. Er
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[172/0186] Unſer Herr, und bange acht Tage für alle Jünger, und wohl für den Thomas am meiſten, der es ſich am we- nigſten merken ließ. Und ſo ward denn iene Fo- derung, die er, bei aller ſcheinbaren Kälte, und nach würklicher Ueberlegung, doch mit einem ge- wiſſen Eifer, und in ſtarker Gemüthsbewegung ausgeſprochen hatte, izt wohl allmählich Aus- ſpruch ſeiner, ſich nun ſelbſt überlaſſenen, genauer nachſinnenden, Vernunft, und ſo ſtand ihm dieſer Ausſpruch wohl um ſo veſter, ie länger und ſorg- fältiger er über die ganze Sache nachgedacht, ie mehr er ſie von allen Seiten erwogen, und ie we- niger Auskunft er über ſie erhalten hatte. Wo- hin mußte dies Nachdenken den Mann nun füh- ren, wenn er noch überzeugt werden konnte, und ſo, daß er auch ſeinen lezten, daß er alle ſeine Zweifel auf einmal aufgeben mußte? Und ſo ward er überzeugt. Genau auf die verlangte Art, ſogar mit ſeinen eigenen Wor- ten, überführte ihn Jeſus. Am achten Tage nämlich kam er, abermals bei verſchloſſenen Thü- ren, zu ſeinen Jüngern, war auf einmal in ihrer Mitte, und ſprach: “Friede ſei mit euch!” Noch traute wohl Thomas ſeinen Augen kaum, wie er auf einmal Ihn vor ſich ſah, in ſeiner, ſo ausgezeichneten, Geſtalt; noch glaubte er wohl unrecht zu hören, wie der Schall aus Seinem Munde ihm in die Sele fiel. Aber der Herr ließ ſeinen Zweifeln nicht länger Raum. Er wandte ſich, — und wie war da wohl ſeine Stel- lung, wie ſeine ganze Geberde, ſein Blik, ſein Ton!

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Zitationshilfe: Thieß, Johann Otto: Unser Herr! in den lezten Tagen seines ersten und in den ersten Tagen seines andern Menschenlebens. Neue Aufl. Hannover, 1794, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thiess_andachtsbuch_1794/186>, abgerufen am 20.11.2024.