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Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692.

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Das 4. Hauptst. von der vernünfftigen
doch zum wenigsten vor Liebe sterben oder er-
krancken;

17.

Es dürffte wohl manchen Tugendlieben-
den Menschen dieser mein Satz etwas zu harte
fürkommen/ und dürffte er wohl selbst auff sein
eigenes Exempel sich beruffen/ daß er allezeit ei-
ne ehrliche Intention gehabt/ und auff keine
fleischliche Vermischung gezielet/ und dennoch
eine dergleichen sochtende Begierde zum öfftern
bey sich befunden/ die ihn wider seinen Willen
keine Ruhe gelassen. Ja er wird mich Zweiffels
ohne auff so viel Bücher/ die von ehrlicher
Liebe handeln/ weisen/ in welchen allen dieselbe
beschrieben wird/ daß sie unsere Vernunfft
bemeistere/
und wider unsern Willen über uns
herrsche.

18.

Aber das ist es eben was ich sage/ was
unsere Vernunfft bemeistert/ das ist nichts
vernünfftiges.
Es sind unterschiedene grade
in der unvernünfftigen Liebe. Dieses ist der ge-
ringste grad, deshalben ist sie auch nicht für un-
vernünfftig ausgeschrien/ sondern nur gesagt/
daß sie nicht vernünfftig sey. Und also kan sie
auch einen Menschen begegnen/ der nicht unver-
nünfftig liebet/ sondern ein ehrliches Absehen
hat/ und unter die Zahl vernünfftiger Menschen
gehöret. Aber er darff sich auch gewiß noch
nicht für ein Muster eines vernünfftigen Men-
schen ausgeben. Dieses ist eine von denen er-
sten Regeln in der Sitten-Lehre/ daß man nichts

unmög-

Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigen
doch zum wenigſten vor Liebe ſterben oder er-
krancken;

17.

Es duͤrffte wohl manchen Tugendlieben-
den Menſchen dieſer mein Satz etwas zu harte
fuͤrkommen/ und duͤrffte er wohl ſelbſt auff ſein
eigenes Exempel ſich beruffen/ daß er allezeit ei-
ne ehrliche Intention gehabt/ und auff keine
fleiſchliche Vermiſchung gezielet/ und dennoch
eine dergleichen ſochtende Begierde zum oͤfftern
bey ſich befunden/ die ihn wider ſeinen Willen
keine Ruhe gelaſſen. Ja er wird mich Zweiffels
ohne auff ſo viel Buͤcher/ die von ehrlicher
Liebe handeln/ weiſen/ in welchen allen dieſelbe
beſchrieben wird/ daß ſie unſere Vernunfft
bemeiſtere/
und wider unſern Willen uͤber uns
herrſche.

18.

Aber das iſt es eben was ich ſage/ was
unſere Vernunfft bemeiſtert/ das iſt nichts
vernuͤnfftiges.
Es ſind unterſchiedene grade
in der unvernuͤnfftigen Liebe. Dieſes iſt der ge-
ringſte grad, deshalben iſt ſie auch nicht fuͤr un-
vernuͤnfftig ausgeſchrien/ ſondern nur geſagt/
daß ſie nicht vernuͤnfftig ſey. Und alſo kan ſie
auch einen Menſchen begegnen/ der nicht unver-
nuͤnfftig liebet/ ſondern ein ehrliches Abſehen
hat/ und unter die Zahl vernuͤnfftiger Menſchen
gehoͤret. Aber er darff ſich auch gewiß noch
nicht fuͤr ein Muſter eines vernuͤnfftigen Men-
ſchen ausgeben. Dieſes iſt eine von denen er-
ſten Regeln in der Sitten-Lehre/ daß man nichts

unmoͤg-
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[164/0196] Das 4. Hauptſt. von der vernuͤnfftigen doch zum wenigſten vor Liebe ſterben oder er- krancken; 17. Es duͤrffte wohl manchen Tugendlieben- den Menſchen dieſer mein Satz etwas zu harte fuͤrkommen/ und duͤrffte er wohl ſelbſt auff ſein eigenes Exempel ſich beruffen/ daß er allezeit ei- ne ehrliche Intention gehabt/ und auff keine fleiſchliche Vermiſchung gezielet/ und dennoch eine dergleichen ſochtende Begierde zum oͤfftern bey ſich befunden/ die ihn wider ſeinen Willen keine Ruhe gelaſſen. Ja er wird mich Zweiffels ohne auff ſo viel Buͤcher/ die von ehrlicher Liebe handeln/ weiſen/ in welchen allen dieſelbe beſchrieben wird/ daß ſie unſere Vernunfft bemeiſtere/ und wider unſern Willen uͤber uns herrſche. 18. Aber das iſt es eben was ich ſage/ was unſere Vernunfft bemeiſtert/ das iſt nichts vernuͤnfftiges. Es ſind unterſchiedene grade in der unvernuͤnfftigen Liebe. Dieſes iſt der ge- ringſte grad, deshalben iſt ſie auch nicht fuͤr un- vernuͤnfftig ausgeſchrien/ ſondern nur geſagt/ daß ſie nicht vernuͤnfftig ſey. Und alſo kan ſie auch einen Menſchen begegnen/ der nicht unver- nuͤnfftig liebet/ ſondern ein ehrliches Abſehen hat/ und unter die Zahl vernuͤnfftiger Menſchen gehoͤret. Aber er darff ſich auch gewiß noch nicht fuͤr ein Muſter eines vernuͤnfftigen Men- ſchen ausgeben. Dieſes iſt eine von denen er- ſten Regeln in der Sitten-Lehre/ daß man nichts unmoͤg-

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Zitationshilfe: Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thomasius_einleitungsittenlehre_1692/196>, abgerufen am 22.11.2024.