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Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692.

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Das 9. H. von der vernünfftigen Liebe
10.

Hingegen wäre die Gesellschafft zwi-
schen Herr und Knecht nicht/
wenn nach der
Liebe alles gemein/ und weder Reiche noch Ar-
me wären. Die Bürgerliche Gesellschafft
aber wäre nicht entstanden/ wenn man sich für
lieblosen Leuten nicht zu fürchten angefangen/
und für deren Haß zu beschützen gesucht hätte.
Bey jener ist deshalben die Liebe gemeiniglich
in einem geringen Grad/
weil bey derselben so
wohl der Herr als der Knecht mehr auff seinen
Privat-Nutzen/ als auf das Vergnügen des an-
dern siehet/ auch das Absehen des Herrn so be-
schaffen ist/ daß es ohne Fürschreibung und Be-
fehl/ darnach der Knecht mit seinem Thun und
Lassen sich richten muß/ nicht kan erhalten wer-
den. Jedennoch muß auf beyden Seiten zum
wenigsten die allgemeine Liebe beobachtet
werden/
und die absonderliche ist dieser Gesell-
schafft nicht zu wider; Ja wo man dieselbe in
dieser Gesellschafft antrifft/
da höret der be-
fehlende Zwang und Eigennutz auf/ und wird in
eine brüderiche Liebe verwandelt.

11.

Aber die bürgerliche Gesellschafft kan
des Zwangs und des Befehlens weniger
entbehren/
und eine absonderliche Liebe zwi-
schen der Obrigkeit und Unterthanen weniger
erhalten/ sondern muß sich begnügen lassen/ wenn
nur die absonderliche Liebe
in Schwang ge-
bracht werden kan/ weil das Mißtrauen gegen

andere
Das 9. H. von der vernuͤnfftigen Liebe
10.

Hingegen waͤre die Geſellſchafft zwi-
ſchen Herr und Knecht nicht/
wenn nach der
Liebe alles gemein/ und weder Reiche noch Ar-
me waͤren. Die Buͤrgerliche Geſellſchafft
aber waͤre nicht entſtanden/ wenn man ſich fuͤr
liebloſen Leuten nicht zu fuͤrchten angefangen/
und fuͤr deren Haß zu beſchuͤtzen geſucht haͤtte.
Bey jener iſt deshalben die Liebe gemeiniglich
in einem geringen Grad/
weil bey derſelben ſo
wohl der Herr als der Knecht mehr auff ſeinen
Privat-Nutzen/ als auf das Vergnuͤgen des an-
dern ſiehet/ auch das Abſehen des Herrn ſo be-
ſchaffen iſt/ daß es ohne Fuͤrſchreibung und Be-
fehl/ darnach der Knecht mit ſeinem Thun und
Laſſen ſich richten muß/ nicht kan erhalten wer-
den. Jedennoch muß auf beyden Seiten zum
wenigſten die allgemeine Liebe beobachtet
werden/
und die abſonderliche iſt dieſer Geſell-
ſchafft nicht zu wider; Ja wo man dieſelbe in
dieſer Geſellſchafft antrifft/
da hoͤret der be-
fehlende Zwang und Eigennutz auf/ und wird in
eine bruͤderiche Liebe verwandelt.

11.

Aber die buͤrgerliche Geſellſchafft kan
des Zwangs und des Befehlens weniger
entbehren/
und eine abſonderliche Liebe zwi-
ſchen der Obrigkeit und Unterthanen weniger
erhalten/ ſondern muß ſich begnuͤgen laſſen/ wenn
nur die abſonderliche Liebe
in Schwang ge-
bracht werden kan/ weil das Mißtrauen gegen

andere
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[360[356]/0388] Das 9. H. von der vernuͤnfftigen Liebe 10. Hingegen waͤre die Geſellſchafft zwi- ſchen Herr und Knecht nicht/ wenn nach der Liebe alles gemein/ und weder Reiche noch Ar- me waͤren. Die Buͤrgerliche Geſellſchafft aber waͤre nicht entſtanden/ wenn man ſich fuͤr liebloſen Leuten nicht zu fuͤrchten angefangen/ und fuͤr deren Haß zu beſchuͤtzen geſucht haͤtte. Bey jener iſt deshalben die Liebe gemeiniglich in einem geringen Grad/ weil bey derſelben ſo wohl der Herr als der Knecht mehr auff ſeinen Privat-Nutzen/ als auf das Vergnuͤgen des an- dern ſiehet/ auch das Abſehen des Herrn ſo be- ſchaffen iſt/ daß es ohne Fuͤrſchreibung und Be- fehl/ darnach der Knecht mit ſeinem Thun und Laſſen ſich richten muß/ nicht kan erhalten wer- den. Jedennoch muß auf beyden Seiten zum wenigſten die allgemeine Liebe beobachtet werden/ und die abſonderliche iſt dieſer Geſell- ſchafft nicht zu wider; Ja wo man dieſelbe in dieſer Geſellſchafft antrifft/ da hoͤret der be- fehlende Zwang und Eigennutz auf/ und wird in eine bruͤderiche Liebe verwandelt. 11. Aber die buͤrgerliche Geſellſchafft kan des Zwangs und des Befehlens weniger entbehren/ und eine abſonderliche Liebe zwi- ſchen der Obrigkeit und Unterthanen weniger erhalten/ ſondern muß ſich begnuͤgen laſſen/ wenn nur die abſonderliche Liebe in Schwang ge- bracht werden kan/ weil das Mißtrauen gegen andere

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Zitationshilfe: Thomasius, Christian: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben. Halle (Saale), 1692, S. 360[356]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/thomasius_einleitungsittenlehre_1692/388>, abgerufen am 24.11.2024.