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Tieck, Ludwig: Die Gemälde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 2. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–123. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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die Kunst verfährt. Wenn ein Niederländer und ein Italiener aus der vorigen Zeit ein und dasselbe Bildniß malen sollten, so würden beide die Aehnlichkeit auffassen, aber jeder ein ganz verschiedenes Porträt und eine ganz andere Aehnlichkeit hervorbringen. So kannte ich in meiner Jugend eine Familie, die aus vielen Kindern bestand, an denen allen die Physiognomie der Aeltern und nur eine Hauptform, aber unter verschiedenen Bedingungen ausgeprägt war, so klar und sicher, als wenn die Kinder Bildnisse von demselben Gegenstande, von verschiedenen großen Malern gezeichnet, wären. Die älteste Tochter war wie von Correggio gemalt mit feinem Teint und zierlicher Form; die zweite war dasselbe Gesicht, aber größer, voller, wie aus der florentinischen Schule; die dritte hatte das Ansehen, als habe Rubens das nämliche Porträt auf seine Art gemalt; die vierte wie ein Bild von Dürer; die nächste wie aus der französischen Schule, glänzend, voll, aber unbestimmt, und die jüngste wie ein flüssig gemaltes Werk von Leonard. Es war eine Freude, diese Gesichter unter sich zu vergleichen, die, mit denselben Formen, in Ausdruck, Farbe und Lineamenten wieder so verschieden waren.

Erinnern Sie sich des wunderbaren Porträts, fragte Erich, welches Ihr alter Freund in seiner Sammlung besaß, und welches sich mit so vielen andern Sachen auf eine unerklärliche Weise verloren hat?

Ja wohl! rief der alte Walther aus, wenn es

die Kunst verfährt. Wenn ein Niederländer und ein Italiener aus der vorigen Zeit ein und dasselbe Bildniß malen sollten, so würden beide die Aehnlichkeit auffassen, aber jeder ein ganz verschiedenes Porträt und eine ganz andere Aehnlichkeit hervorbringen. So kannte ich in meiner Jugend eine Familie, die aus vielen Kindern bestand, an denen allen die Physiognomie der Aeltern und nur eine Hauptform, aber unter verschiedenen Bedingungen ausgeprägt war, so klar und sicher, als wenn die Kinder Bildnisse von demselben Gegenstande, von verschiedenen großen Malern gezeichnet, wären. Die älteste Tochter war wie von Correggio gemalt mit feinem Teint und zierlicher Form; die zweite war dasselbe Gesicht, aber größer, voller, wie aus der florentinischen Schule; die dritte hatte das Ansehen, als habe Rubens das nämliche Porträt auf seine Art gemalt; die vierte wie ein Bild von Dürer; die nächste wie aus der französischen Schule, glänzend, voll, aber unbestimmt, und die jüngste wie ein flüssig gemaltes Werk von Leonard. Es war eine Freude, diese Gesichter unter sich zu vergleichen, die, mit denselben Formen, in Ausdruck, Farbe und Lineamenten wieder so verschieden waren.

Erinnern Sie sich des wunderbaren Porträts, fragte Erich, welches Ihr alter Freund in seiner Sammlung besaß, und welches sich mit so vielen andern Sachen auf eine unerklärliche Weise verloren hat?

Ja wohl! rief der alte Walther aus, wenn es

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[0046] die Kunst verfährt. Wenn ein Niederländer und ein Italiener aus der vorigen Zeit ein und dasselbe Bildniß malen sollten, so würden beide die Aehnlichkeit auffassen, aber jeder ein ganz verschiedenes Porträt und eine ganz andere Aehnlichkeit hervorbringen. So kannte ich in meiner Jugend eine Familie, die aus vielen Kindern bestand, an denen allen die Physiognomie der Aeltern und nur eine Hauptform, aber unter verschiedenen Bedingungen ausgeprägt war, so klar und sicher, als wenn die Kinder Bildnisse von demselben Gegenstande, von verschiedenen großen Malern gezeichnet, wären. Die älteste Tochter war wie von Correggio gemalt mit feinem Teint und zierlicher Form; die zweite war dasselbe Gesicht, aber größer, voller, wie aus der florentinischen Schule; die dritte hatte das Ansehen, als habe Rubens das nämliche Porträt auf seine Art gemalt; die vierte wie ein Bild von Dürer; die nächste wie aus der französischen Schule, glänzend, voll, aber unbestimmt, und die jüngste wie ein flüssig gemaltes Werk von Leonard. Es war eine Freude, diese Gesichter unter sich zu vergleichen, die, mit denselben Formen, in Ausdruck, Farbe und Lineamenten wieder so verschieden waren. Erinnern Sie sich des wunderbaren Porträts, fragte Erich, welches Ihr alter Freund in seiner Sammlung besaß, und welches sich mit so vielen andern Sachen auf eine unerklärliche Weise verloren hat? Ja wohl! rief der alte Walther aus, wenn es

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-16T12:27:02Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-16T12:27:02Z)

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Die Gemälde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 2. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–123. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_gemaelde_1910/46>, abgerufen am 03.12.2024.