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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795.

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Dinge eine Menge von Seiten auffinden, die
in den verschiedenen Gesichtspunkten der Sa-
che selbst eine ganz andre Gestalt geben, --
wie leicht kann man aber dadurch verleitet
werden, gerade die unnatürlichere Ansicht für
die bessere zu halten, weil es dem Geiste größe-
re Mühe kostete, zu dieser zu gelangen? Führt
das Gefühl hier nicht vielleicht auf einem
kürzern und richtigern Wege zum Ziele? Ich
habe oft darüber gedacht, ob dieser Hang des
Geistes, den Du zu den ersten Vorzügen des
Menschen rechnest, nicht im Grunde an jenen
unglücklichen Hang der Griechischen Sophisten
gränze, ob er nicht mit diesem fast zusam-
menfalle. -- Es ist so leicht und wieder so
schwierig, seinen Charakter durch Grundsätze
zu bilden; es giebt eine Menge kalter Thoren,
die eben dadurch lächerliche Pedanten gewor-
den sind; das Gefühl wohnt in jeder Brust,
dieser Wegweiser verläßt den Menschen nie,
mir scheint es natürlicher, ihm zu folgen. --

Ich schließe; Mortimer bringt mir so eben
einen Brief. -- O Eduard, er ist von Ama-
lien! -- Nein, ich bin ein Elender, wenn

Dinge eine Menge von Seiten auffinden, die
in den verſchiedenen Geſichtspunkten der Sa-
che ſelbſt eine ganz andre Geſtalt geben, —
wie leicht kann man aber dadurch verleitet
werden, gerade die unnatuͤrlichere Anſicht fuͤr
die beſſere zu halten, weil es dem Geiſte groͤße-
re Muͤhe koſtete, zu dieſer zu gelangen? Fuͤhrt
das Gefuͤhl hier nicht vielleicht auf einem
kuͤrzern und richtigern Wege zum Ziele? Ich
habe oft daruͤber gedacht, ob dieſer Hang des
Geiſtes, den Du zu den erſten Vorzuͤgen des
Menſchen rechneſt, nicht im Grunde an jenen
ungluͤcklichen Hang der Griechiſchen Sophiſten
graͤnze, ob er nicht mit dieſem faſt zuſam-
menfalle. — Es iſt ſo leicht und wieder ſo
ſchwierig, ſeinen Charakter durch Grundſaͤtze
zu bilden; es giebt eine Menge kalter Thoren,
die eben dadurch laͤcherliche Pedanten gewor-
den ſind; das Gefuͤhl wohnt in jeder Bruſt,
dieſer Wegweiſer verlaͤßt den Menſchen nie,
mir ſcheint es natuͤrlicher, ihm zu folgen. —

Ich ſchließe; Mortimer bringt mir ſo eben
einen Brief. — O Eduard, er iſt von Ama-
lien! — Nein, ich bin ein Elender, wenn

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[124[122]/0132] Dinge eine Menge von Seiten auffinden, die in den verſchiedenen Geſichtspunkten der Sa- che ſelbſt eine ganz andre Geſtalt geben, — wie leicht kann man aber dadurch verleitet werden, gerade die unnatuͤrlichere Anſicht fuͤr die beſſere zu halten, weil es dem Geiſte groͤße- re Muͤhe koſtete, zu dieſer zu gelangen? Fuͤhrt das Gefuͤhl hier nicht vielleicht auf einem kuͤrzern und richtigern Wege zum Ziele? Ich habe oft daruͤber gedacht, ob dieſer Hang des Geiſtes, den Du zu den erſten Vorzuͤgen des Menſchen rechneſt, nicht im Grunde an jenen ungluͤcklichen Hang der Griechiſchen Sophiſten graͤnze, ob er nicht mit dieſem faſt zuſam- menfalle. — Es iſt ſo leicht und wieder ſo ſchwierig, ſeinen Charakter durch Grundſaͤtze zu bilden; es giebt eine Menge kalter Thoren, die eben dadurch laͤcherliche Pedanten gewor- den ſind; das Gefuͤhl wohnt in jeder Bruſt, dieſer Wegweiſer verlaͤßt den Menſchen nie, mir ſcheint es natuͤrlicher, ihm zu folgen. — Ich ſchließe; Mortimer bringt mir ſo eben einen Brief. — O Eduard, er iſt von Ama- lien! — Nein, ich bin ein Elender, wenn

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 124[122]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/132>, abgerufen am 21.11.2024.