Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795.

Bild:
<< vorherige Seite
8.
William Lovell an Eduard Burton.


Ich schreibe Dir, mein Eduard, in einer gro-
ßen Begeisterung, in die mich die Reise, die
schöne Natur umher, versetzt. -- So bin ich
denn nun in dem Lande, nach welchem schon in
meiner Kindheit alle meine Wünsche flogen, wo
meine Phantasie sich anbaute und einheimisch
ward? Es macht mir ein seltsames Gefühl,
wenn ich daran denke, daß ich die Gegenden,
die Dinge nun wirklich vor mir sehe, nach de-
nen mein Auge so lange schmachtete, die ich
nur im Traume sah. Vieles entspricht meinen
Erwartungen, vieles übertrifft sie, aber so man-
ches bleibt auch hinter ihnen zurück, wie es denn
natürlich bei solchen Gegenständen immer der
Fall seyn muß, die wir seit Jahren mit unsrer
erhitzten Phantasie besuchen, und alles aus-
schmücken und in das reizendste Licht stellen.
Die Kunstwerke der größten Genies sind um
mich her versammelt, ich bespreche mich im stil-
len Anschaun mit den erhabenen Geistern der

8.
William Lovell an Eduard Burton.


Ich ſchreibe Dir, mein Eduard, in einer gro-
ßen Begeiſterung, in die mich die Reiſe, die
ſchoͤne Natur umher, verſetzt. — So bin ich
denn nun in dem Lande, nach welchem ſchon in
meiner Kindheit alle meine Wuͤnſche flogen, wo
meine Phantaſie ſich anbaute und einheimiſch
ward? Es macht mir ein ſeltſames Gefuͤhl,
wenn ich daran denke, daß ich die Gegenden,
die Dinge nun wirklich vor mir ſehe, nach de-
nen mein Auge ſo lange ſchmachtete, die ich
nur im Traume ſah. Vieles entſpricht meinen
Erwartungen, vieles uͤbertrifft ſie, aber ſo man-
ches bleibt auch hinter ihnen zuruͤck, wie es denn
natuͤrlich bei ſolchen Gegenſtaͤnden immer der
Fall ſeyn muß, die wir ſeit Jahren mit unſrer
erhitzten Phantaſie beſuchen, und alles aus-
ſchmuͤcken und in das reizendſte Licht ſtellen.
Die Kunſtwerke der groͤßten Genies ſind um
mich her verſammelt, ich beſpreche mich im ſtil-
len Anſchaun mit den erhabenen Geiſtern der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0236" n="228[226]"/>
        <div n="2">
          <head>8.<lb/>
William Lovell an Eduard Burton.</head><lb/>
          <dateline> <hi rendition="#et">Florenz.</hi> </dateline><lb/>
          <p><hi rendition="#in">I</hi>ch &#x017F;chreibe Dir, mein Eduard, in einer gro-<lb/>
ßen Begei&#x017F;terung, in die mich die Rei&#x017F;e, die<lb/>
&#x017F;cho&#x0364;ne Natur umher, ver&#x017F;etzt. &#x2014; So bin ich<lb/>
denn nun in dem Lande, nach welchem &#x017F;chon in<lb/>
meiner Kindheit alle meine Wu&#x0364;n&#x017F;che flogen, wo<lb/>
meine Phanta&#x017F;ie &#x017F;ich anbaute und einheimi&#x017F;ch<lb/>
ward? Es macht mir ein &#x017F;elt&#x017F;ames Gefu&#x0364;hl,<lb/>
wenn ich daran denke, daß ich die Gegenden,<lb/>
die Dinge nun <hi rendition="#g">wirklich</hi> vor mir &#x017F;ehe, nach de-<lb/>
nen mein Auge &#x017F;o lange &#x017F;chmachtete, die ich<lb/>
nur im Traume &#x017F;ah. Vieles ent&#x017F;pricht meinen<lb/>
Erwartungen, vieles u&#x0364;bertrifft &#x017F;ie, aber &#x017F;o man-<lb/>
ches bleibt auch hinter ihnen zuru&#x0364;ck, wie es denn<lb/>
natu&#x0364;rlich bei &#x017F;olchen Gegen&#x017F;ta&#x0364;nden immer der<lb/>
Fall &#x017F;eyn muß, die wir &#x017F;eit Jahren mit un&#x017F;rer<lb/>
erhitzten Phanta&#x017F;ie be&#x017F;uchen, und alles aus-<lb/>
&#x017F;chmu&#x0364;cken und in das reizend&#x017F;te Licht &#x017F;tellen.<lb/>
Die Kun&#x017F;twerke der gro&#x0364;ßten Genies &#x017F;ind um<lb/>
mich her ver&#x017F;ammelt, ich be&#x017F;preche mich im &#x017F;til-<lb/>
len An&#x017F;chaun mit den erhabenen Gei&#x017F;tern der<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[228[226]/0236] 8. William Lovell an Eduard Burton. Florenz. Ich ſchreibe Dir, mein Eduard, in einer gro- ßen Begeiſterung, in die mich die Reiſe, die ſchoͤne Natur umher, verſetzt. — So bin ich denn nun in dem Lande, nach welchem ſchon in meiner Kindheit alle meine Wuͤnſche flogen, wo meine Phantaſie ſich anbaute und einheimiſch ward? Es macht mir ein ſeltſames Gefuͤhl, wenn ich daran denke, daß ich die Gegenden, die Dinge nun wirklich vor mir ſehe, nach de- nen mein Auge ſo lange ſchmachtete, die ich nur im Traume ſah. Vieles entſpricht meinen Erwartungen, vieles uͤbertrifft ſie, aber ſo man- ches bleibt auch hinter ihnen zuruͤck, wie es denn natuͤrlich bei ſolchen Gegenſtaͤnden immer der Fall ſeyn muß, die wir ſeit Jahren mit unſrer erhitzten Phantaſie beſuchen, und alles aus- ſchmuͤcken und in das reizendſte Licht ſtellen. Die Kunſtwerke der groͤßten Genies ſind um mich her verſammelt, ich beſpreche mich im ſtil- len Anſchaun mit den erhabenen Geiſtern der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/236
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 228[226]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/236>, abgerufen am 21.11.2024.