Ihr Brief, lieber Graf, hat mich sehr betrübt; Sie gehören zu jenen Leuten, die es ganz ver- dienen, in der vollesten Bedeutung des Worts glücklich zu seyn; daß Sie es aber so wenig sind, schmerzt mich innig. -- Es ist aber mög- lich, und ich wünsche, daß es so seyn möge, daß Ihre Phantasie einen großen Theil Ih- rer Leiden ausmacht. Sie hatten sich vielleicht einen Plan entworfen, der zu schön war, um realisirt werden zu können: da Sie sich nun in Ihrer Hofnung getäuscht sehn, so erscheint Ihnen jedes Ding trübe und finster. -- Viel- leicht ist alles anders und besser, wenn Sie die Sache ansehn, so wie sie ist; der Mensch ist so eneigt, sich allenthalben sein Unglück zu ver- größern, daß man nur selten dem Berichte des Erzählers ganz vertrauen kann. -- Ich wünschte, ich wäre in Paris, um Sie aufzuheitern. Durch
Lovell, I. Bd. T
15. Mortimer an den Grafen Melun.
London.
Ihr Brief, lieber Graf, hat mich ſehr betruͤbt; Sie gehoͤren zu jenen Leuten, die es ganz ver- dienen, in der volleſten Bedeutung des Worts gluͤcklich zu ſeyn; daß Sie es aber ſo wenig ſind, ſchmerzt mich innig. — Es iſt aber moͤg- lich, und ich wuͤnſche, daß es ſo ſeyn moͤge, daß Ihre Phantaſie einen großen Theil Ih- rer Leiden ausmacht. Sie hatten ſich vielleicht einen Plan entworfen, der zu ſchoͤn war, um realiſirt werden zu koͤnnen: da Sie ſich nun in Ihrer Hofnung getaͤuſcht ſehn, ſo erſcheint Ihnen jedes Ding truͤbe und finſter. — Viel- leicht iſt alles anders und beſſer, wenn Sie die Sache anſehn, ſo wie ſie iſt; der Menſch iſt ſo eneigt, ſich allenthalben ſein Ungluͤck zu ver- groͤßern, daß man nur ſelten dem Berichte des Erzaͤhlers ganz vertrauen kann. — Ich wuͤnſchte, ich waͤre in Paris, um Sie aufzuheitern. Durch
Lovell, I. Bd. T
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[289[287]/0297]
15.
Mortimer an den Grafen Melun.
London.
Ihr Brief, lieber Graf, hat mich ſehr betruͤbt;
Sie gehoͤren zu jenen Leuten, die es ganz ver-
dienen, in der volleſten Bedeutung des Worts
gluͤcklich zu ſeyn; daß Sie es aber ſo wenig
ſind, ſchmerzt mich innig. — Es iſt aber moͤg-
lich, und ich wuͤnſche, daß es ſo ſeyn moͤge,
daß Ihre Phantaſie einen großen Theil Ih-
rer Leiden ausmacht. Sie hatten ſich vielleicht
einen Plan entworfen, der zu ſchoͤn war, um
realiſirt werden zu koͤnnen: da Sie ſich nun
in Ihrer Hofnung getaͤuſcht ſehn, ſo erſcheint
Ihnen jedes Ding truͤbe und finſter. — Viel-
leicht iſt alles anders und beſſer, wenn Sie die
Sache anſehn, ſo wie ſie iſt; der Menſch iſt
ſo eneigt, ſich allenthalben ſein Ungluͤck zu ver-
groͤßern, daß man nur ſelten dem Berichte des
Erzaͤhlers ganz vertrauen kann. — Ich wuͤnſchte,
ich waͤre in Paris, um Sie aufzuheitern. Durch
Lovell, I. Bd. T
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 289[287]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/297>, abgerufen am 22.11.2024.
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